Schon heute sagt in Umfragen die Hälfte der Menschen, dass sie lieber Suizid begehen würde, als dauerhaft pflegebedürftig zu werden – das ist alarmierend, warnen Patientenschützer. Foto: dpa

Mehr Pflegekräfte, mehr Geld, mehr Unterstützungsangebote für pflegende Angehörige – für all das soll die Pflegereform sorgen. Doch dem Vorsitzenden der Stiftung Patientenschutz ist das nicht genug. Eugen Brysch über gute Pflege, schwäbische Hausfrauen und schreiendes Unrecht.

Mehr Pflegekräfte, mehr Geld, mehr Unterstützungsangebote für pflegende Angehörige – für all das soll die Pflegereform sorgen. Doch dem Vorsitzenden der Stiftung Patientenschutz ist das nicht genug. Eugen Brysch über gute Pflege, schwäbische Hausfrauen und schreiendes Unrecht.
 
Herr Brysch, die Bundesregierung lobt ihre Pflegereform – Sie auch?
Die Reform versucht das auszugleichen, was in den vergangenen zehn Jahren immer schlechter geworden ist. Das ist aber ganz etwas anderes als ein Sprung nach vorne – den sehe ich nicht. Eine wirkliche Innovation, die die Pflege zukunftsfest und generationengerecht macht, kann ich nicht erkennen. Immerhin wird jetzt Geld in die Hand genommen, Gott sei Dank auch für Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Das erkenne ich an.
Stichwort Generationengerechtigkeit: Da verweist Schwarz-Rot auf die Einrichtung des Vorsorgefonds, der doch gerade dafür da ist, Rücklagen für Zeiten zu bilden, da die geburtenstarken Jahrgänge pflegebedürftig werden.
Die schwäbische Hausfrau weiß: Ich muss für Notzeiten Vorsorge treffen. Dummerweise garantiert uns aber niemand, dass die Rücklagen auch bei denen ankommen, für die sie gedacht sind. Die Zinspolitik begünstigt den Rücklagenaufbau nicht gerade – und zu oft haben wir es in der Vergangenheit erlebt, dass sich der Staat bedient und solche Reserven zweckentfremdet.
Das befürchten Sie auch hier?
Ja. Ich kritisiere, dass der Fonds unter der Regie der Deutschen Bundesbank verwaltet werden soll. Die Bundesbank hat sich aber in den vergangenen 50 Jahren nicht als der sichere Hort erwiesen, der gegen den Zugriff des Staates resistent ist. Die Bundesbank ist nicht in der Lage, dem Zugriff der Politik Widerstand entgegenzusetzen. Das sagt sie übrigens selbst. Den Aufbau eines Fonds halte ich für richtig, seine geplante Konstruktion aber nicht.
Ihre Alternative?
Ich plädiere dafür, den Vorsorgefonds in eine Stiftung öffentlichen Rechts zu überführen. Die bietet in der Satzung die Möglichkeit, genau die Aufgaben des Fonds zu beschreiben. Die Satzung kann dann auch nicht mehr beliebig nach politischer Großwetterlage verändert werden. Man hätte also eine anwachsende zweckgebundene Kapitalmasse, die gegen politische Begehrlichkeiten gut geschützt ist.
Kritiker des Fonds wollen das Geld lieber gleich ausgeben – etwa für mehr Pflegepersonal.
Es geht um Generationengerechtigkeit. Der Fonds soll garantieren, dass immer weniger Beschäftigte die Last einer größen werdender Zahl von Pflegebedürftigen stemmen können. So kann auch gesichert werden, dass diejenigen, die heute einzahlen, auch später etwas davon haben. Natürlich muss man gleichzeitig – mit anderen Mitteln – den Pflegeberuf attraktiv machen. Das geht. Ich verweise auf die deutlich gestiegene Zahl der Ärzte in Kliniken. Das ist auch eine Folge besserer Arbeitsbedingungen – erreicht durch eine wirkungsstarke Gewerkschaft. Eine solche starke Lobby brauchen die Pflegeberufe auch. Die Pflege ist aber heillos zersplittert.
Verbessert sich die Lage der stationären Pflege?
In Hinblick auf die Demenzerkrankten schon. Da steht mehr Geld zur Verfügung und der Zeitaufwand wird anders berücksichtigt. Da bremsen wir einen Abwärtstrend der letzten Jahre ab. Nur bringt die Pflegereform eben keine echte Wende zustande. Und die größten Verlierer der Reform sind die Sterbenden in Deutschland.
Inwiefern?
Die Bundesregierung zementiert mit ihrer Reform ein schreiendes Unrecht: Die Sozialkassen stellen für einen Platz in einem Hospiz bis zu 7500 Euro pro Monat zur Verfügung. Bei den Pflegeheimen liegt der Betrag bei maximal 1550 Euro. Die Bedürfnisse schwerstkranker und sterbender Menschen sind in beiden Einrichtungen aber identisch. Und gestorben wird eben auch in den Pflegeheimen. Dort leben bundesweit rund 730 000 Menschen. Es gibt keine Sterbestatistik, aber man kann aus den Angaben zur Verweildauer ableiten, dass dort jährlich zwischen 224 000 und 343 000 Menschen sterben. Beim Sterben gibt es also eine Zweiklassengesellschaft. Daran ändert sich leider gar nichts. Deshalb fordern wir für die Begleitung sterbender Menschen eine eigene Pflegestufe. Es darf keinen Unterschied geben, ob im Hospiz oder Pflegeheim gestorben wird.
Noch mehr Geld ins System zu geben heißt dann aber auch: weiter steigende Beiträge.
Nein, denn in den letzten fünf Lebensjahren werden rund 80 Prozent der Gesundheitsleistungen ausgegeben. Das sind jährlich 240 Milliarden Euro. Ich bezweifle, dass das System immer das Wohl der pflegebedürftigen, schwerstkranken und sterbenden Menschen im Blick hat. Vielmehr sind sie Opfer einer Fehlversorgung. Verschleiert durch das Nebeneinander von Pflege- und Krankenkassen, von ambulanter und stationärer Versorgung. Das ist intransparent und ineffizient.
Ein Beispiel  . . .
. .. zum Beispiel werden Pflegeheimbewohner derzeit munter hin- und hergeschoben – etwa von den Pflegeheimen in die Krankenhäuser. Kalt nennt der Ökonom das Drehtüreffekt, ich nenne das Menschenverachtung. Alle verdienen gut – nur der Patient verliert. Wir müssen nicht mehr Geld in die Hand nehmen, um das Gesundheitssystem hier auf die Bedürfnisse der Betroffenen auszurichten. Was wir brauchen ist der politische Wille, der Gesundheitswirtschaft und Pharmaindustrie die Stirn zu bieten.
Sehen Sie bei der Pflege die Qualität hinreichend in den Blick genommen?
Leider nicht. Für die Krankenhäuser soll ja ein unabhängiges Institut Qualitätsanalysen erstellen. Das ist sehr positiv. Aber dieses Institut müsste unbedingt in einem ersten Schritt auch die stationären Pflege-Einrichtungen untersuchen. Langfristig brauchen wir bei den Pflegeheimen ein Bonus-Malus-System.
Gute Pflege muss sich lohnen?
Ja, gute Pflege muss sich lohnen. Zurzeit bekommt man immer dasselbe Geld, egal welcher Standard erreicht wird. Aber auch dazu gibt es nichts im Reformpaket. Wenn wir nichts ändern, wird die Angst der Menschen vor der Heimpflege weiter steigen. Schon heute sagt in Umfragen die Hälfte der Menschen, dass sie lieber Suizid begehen würde, als dauerhaft pflegebedürftig zu werden. Das ist alarmierend.