SPD-Rentenexperte Martin Rosemann (li.) und Andreas Schwarz, Chef der Rentenversicherung Baden-Württemberg, versprechen sich viel von der neuen Flexi-Rente. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Bisher war die Teilrente ein Ladenhüter, sagt Andreas Schwarz, der neue Chef der Rentenversicherung Baden-Württemberg. Das neue Modell ist ein gutes Angebot, flexibler aus dem Erwerbsleben auszusteigen, sagt SPD-Rentenexperte Martin Rosemann.

Stuttgart – - Herr Schwarz, Herr Rosemann, die neue Flexi-Rente soll helfen, Arbeit und Rente besser miteinander zu kombinieren. Das heißt nicht, dass man künftig mit 60 kürzer treten kann?
Schwarz: Mit 60 auszusteigen sieht unser Rentenrecht nicht vor. Die frühestmögliche Ausstiegsmöglichkeit ist mit 63.
Rosemann: Wir hätten uns die Teilrente schon mit 60 vorstellen können, aber Ausstiegsmöglichkeiten vor dem 63. Geburtstag hat der Koalitionspartner vehement abgelehnt.
Welchen Vorteil hat die Flexirente für die Beschäftigten?
Rosemann: Es gibt bisher schon die Teilrente ab 63. Die bisherige Regelung war aber sehr sperrig. Wenn die starren Hinzuverdienstgrenzen überschritten wurden, hatte man sogar weniger in der Tasche. Jetzt hat man mit jedem Hinzuverdienst einen doppelten Vorteil: sofort mehr in der Tasche und später mehr Rente.
Schwarz: Die bisherige Teilrente war ein Ladenhüter. Die Rentenversicherung Baden-Württemberg hatte Ende 2015 über eine Million Altersrenten und lediglich 354 Teilrenten. Bisher war kaum vermittelbar, wie viel monatlich hinzuverdient werden durfte, da es individuelle Grenzen gab. Jetzt gibt es einen Jahresbetrag – 6300 Euro –, den man anrechnungsfrei hinzu verdienen darf. Wer mehr verdient, muss 40 Prozent vom Mehrverdienst abgeben. Das ist einfach, transparent und flexibel.
Eine Teilrente ab 63 und noch Hinzuverdienst bis 70. Wird das die neue Normalität?
Rosemann: Es gibt zunehmend mehr Beschäftigte, die nicht bis zum 65. Lebensjahr oder darüber hinaus Vollzeit arbeiten wollen und dann gar nicht mehr. Denen macht der Gesetzgeber jetzt ein Angebot, flexibler aus dem Erwerbsleben auszusteigen – das reicht von den Verbesserungen bei der Teilrente bis zu der Tatsache, dass man Zuschläge bekommt, wenn man die Rente später in Anspruch nimmt.
Trotzdem sagen einige, die Hinzuverdienstgrenzen seien zu kompliziert und würden Arbeitnehmer abschrecken.

Rosemann: Das kann ich nicht nachvollziehen. Es kann allenfalls Probleme geben, wenn jemand ein Einkommen anmeldet und am Ende des Jahres mehr verdient hat. Dann kann es nach einem Jahr eine Rückforderung geben. Aber auch da gibt es Bagatellgrenzen und die Möglichkeit, was zuviel verdient wurde mit der Rente des nächsten Jahres zu verrechnen. Aber das ist immer noch deutlich einfacher als das bisherige Verfahren.

Schwarz: Ein Teil der Befürchtungen kommt sicher von den bisherigen Erfahrungen. Wurde der Schwellenwert auch nur geringfügig überschritten, musste eine völlig neue, geringere Teilrente berechnet werden, was zur Folge hatte, dass große Beträge zurückgefordert wurden. Es konnte sein, dass jemand, der 40 Euro über der Hinzuverdienstgrenze lag, 2000 Euro Rente zurückzahlen sollte. Da sind die Emotionen hoch gekocht. Solche Fälle wird es künftig nicht mehr geben, weil die Regelung flexibler und nachvollziehbarer ist.
Es hat lange gedauert, bis es zu dem Ergebnis gekommen ist. Sind Sie zufrieden damit?
Schwarz: Die Rentenversicherung ist zufrieden, weil die alte Teilrentenregelung durch ein transparentes Modell abgelöst wird. Sehr positiv ist auch, dass mit dem Gesetz auch Prävention- und Rehaleistungen verbessert werden, damit die Menschen auch in die Lage versetzt werden, länger zu arbeiten. Sehr positiv sehe ich auch den berufsbezogenen Gesundheitscheck mit 45. Es wird nicht mehr nur gewartet, bis jemand einen Rehaantrag stellt, sondern die Rentenversicherung kann auf Leute zugehen, die eine Reha brauchen, sich aber nicht selbst melden.
Rosemann: Das sehe ich genauso. Es gibt Menschen mit Ende 50/Anfang 60, die aus gesundheitlichen Gründen nicht in ihrem Beruf weiterarbeiten können, aber für eine Erwerbsminderungsrente zu gesund sind. In dem Alter ist es zu spät für eine berufliche Neuorientierung. Wenn man aber mit Mitte/Ende 40 einen berufsbezogenen Gesundheitscheck macht, lässt sich noch etwas verändern. Ein Bauarbeiter kann sich beispielsweise in Richtung Techniker weiterqualifizieren.
In der Theorie klingt das sinnvoll. Aber wer will seinem Chef signalisieren, dass er vielleicht nicht durchhält?
Rosemann: Von dem Gesundheitscheck müssen Beschäftigte ihrem Chef nichts sagen. Das ist ein Angebot, das sich an die Versicherten direkt wendet und die Angebote über den Betrieb ergänzt. Wir werden in Modellregionen zunächst ausprobieren, wie wir die Leute erreichen, die eine solche Unterstützung am nötigsten haben.
Schwarz: Wir wollen mit den Beschäftigten ins Gespräch kommen, zum Beispiel über einen Fragenkatalog im Internet, der einem signalisiert, ob es Handlungsbedarf gibt. Heute erkennen wir Problemlagen oft gar nicht. Unser Ziel ist, den Menschen im Erwerbsleben zu halten.
Rosemann: Von denjenigen, die erstmals Erwerbsminderungsrente beziehen, hat nicht mal die Hälfte an einer Rehamaßnahme teilgenommen. Ein erschreckender Befund. Genau da setzen wir an.
Die Unterschiede in der körperlichen Verfassung der Älteren ist sehr groß, damit sind die Chancen für Weiterarbeit ungleich verteilt.
Rosemann: In allen Branchen steigt das Ausstiegsalter jedes Jahr an – mit drei Ausnahmen: Gesundheitsberufe, Bau und Helfertätigkeiten. Wir brauchen in einer älter werdenden Gesellschaft, in der sich die beruflichen Anforderungen schnell ändern, ein anderes Verständnis von Sozialpolitik. Wir müssen die Menschen sehr viel mehr während ihres Arbeitslebens begleiten und sie in Umbruchsituationen unterstützen. Hier sind besonders die Arbeitsagentur, die Rentenversicherung und auch die Krankenkassen gefragt. Ich bin froh, dass wir in Baden-Württemberg eine Rentenversicherung haben, die diese Rolle sehr aktiv annimmt, die Motor dieser Entwicklung ist.
Schwarz: Wir haben hier traumhafte Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt und wir haben Arbeitgeber, die sehr aufgeschlossen sind für Maßnahmen, die auch mal Geld kosten dürfen. Denn sie wissen, dass ein guter Mitarbeiter, der aus gesundheitlichen Problemen ausscheidet, sich nicht mehr so leicht ersetzen lässt. Hier spüren die Arbeitgeber den Fach- und Arbeitskräftemangel bereits.
Fast jeder fünfte Neurentner bezieht eine Erwerbsminderungsrente? Liegt hier nicht eine große Gefahr von Altersarmut?
Schwarz: Die Erwerbsminderungsrente ist nach dem Scheidungsrichter einer der Hauptgründe für Altersarmut. Die Höhe der Renten ist nicht zufriedenstellend. Wer 2015 erstmals eine volle Erwerbsminderungsrente bezog, erhielt im Bundesdurchschnitt 711 Euro. Wie weit kommt man damit als Alleinstehender in Stuttgart? Bis zum Grundsicherungsamt.
Rosemann: Die Erwerbsminderung ist eines der dringenden Reformfelder bei der Rente, wenn es darum geht, Altersarmut zu verhindern.
Das Thema Reha ist demnach keine Frage von Bewilligung?
Schwarz: Was glauben Sie, wie viel Versicherte über 40 eine Rehamaßnahme in Anspruch nehmen? 20 Prozent, zehn Prozent oder fünf Prozent? Keine der Zahlen stimmt. Wir erreichen mit einer Rehamaßnahme gerade einmal 2,5 Prozent.
Rosemann: Es geht letztlich darum, in die Gesundheit und die Qualifikation von Menschen zu investieren, damit die länger erwerbstätig bleiben und Steuern und Sozialabgaben zahlen können. Prävention und Reha hört sich erst mal nicht sexy an. es ist aber eine richtig gute Investition – für den Einzelnen und für die Gesellschaft.
Rehaleistungen verursachen Kosten. Wie sieht es mit dem Erfolg der Maßnahmen aus?
Schwarz: Jeder Euro, der in Reha investiert wird, kommt fünffach zurück. Wenn wir heute eine Rehamaßnahme bewilligen und der Beschäftigte bleibt dadurch sechs Monate länger im Erwerbsleben, hat sich die Investition schon bezahlt gemacht. So eine Rehamaßnahme ist nicht sehr teuer, eine Rehaklinik erhält ungefähr 120 Euro pro Tag – für Vollpension plus Medizintherapie.
Rente wird ein großes Thema im Bundestagswahlkampf sein. Wie sinnvoll ist der Streit um die Anhebung des Rentenniveaus?
Rosemann: Damit das System der gesetzlichen Rente nicht an Akzeptanz verliert, brauchen wir eine Auffanglinie für das Rentenniveau auch nach 2030. Schon die bisherige Untergrenze von 43 Prozent ist aus meiner Sicht zu wenig. Eine solche Stabilisierung bedeutet aber bereits eine enorme finanzielle Kraftanstrengung. Ich hoffe, dass wir diese Frage noch vor der Bundestagswahl zusammen mit dem Koalitionspartner entscheiden. Die Rente ist für sehr viele Menschen ein sehr wichtiges Thema. Hier geht es um soziale Abstiegsängste. Die Politik sollte nicht weitere Verunsicherung schaffen.
Schwarz: In der Rentenpolitik hat man drei Stellschrauben, die miteinander verzahnt sind: das Rentenniveau, der Beitragssatz und das Rentenzugangsalter. Wenn ich das Rentenniveau zwei Prozentpunkte nach oben schraube, geht auch der Beitragssatz um einen Punkt nach oben. Es sei denn, ich hebe das Rentenzugangsalter auf 70 oder mehr an, aber das ist derzeit tabu. Wer das Rentenniveau anheben möchte, muss den Bürgern auch sagen, was das für den Beitragssatz bedeutet. Einer muss es bezahlen.