Wer nicht mehr für sich selbst sprechen kann, braucht einen Betreuer. Foto: dpa

Sozialleistungsträger rufen zu schnell nach einem Betreuer, obwohl alte Menschen oft noch ganz gut alleine zurecht kommen, kritisiert Jura-Professor Volker Lipp.

Stuttgart - Wer nicht mehr für sich selbst sprechen kann, braucht einen Betreuer. So will es das Gesetz seit 1992. Es hat sich bewährt, sagt Volker Lipp, Mitglied des Deutschen Ethikrats. Dennoch fordert der Göttinger Jurist, der den derzeit in Erkner bei Berlin stattfindenden 4. Weltkongress für Betreuungsrecht organisiert hat, eine Weiterentwicklung.

Herr Lipp, aus mehreren Ländern, darunter federführend Baden-Württemberg, kommt die Forderung, die Position von Ehegatten im Betreuungsrecht zu stärken. Wie bewerten Sie die Gesetzesinitiative, die dem Bundesrat zur Beratung vorliegt?
Ich kann das nur unterstützen. Wenn ein Ehegatte etwa nach einem Unfall ins Krankenhaus muss und nicht mehr handlungsfähig ist, ist die Position des Partners rechtlich nicht gesichert. Er kann bei Ärzten nicht für seinen Ehepartner sprechen und schlecht Einfluss auf die Behandlung nehmen. Bestehende Regelungen helfen nicht wirklich weiter. Es ist deshalb richtig, im Betreuungsrecht nachzubessern. Darauf zielt der Vorstoß aus Baden-Württemberg. Es sollte allerdings deutlicher gesagt werden, dass es um eine Vertretungsmöglichkeit für Ehegatten im Sinne einer Notfallregelung geht.
Für den Fall, dass eine Neuregelung weiter auf sich warten lässt – was raten Sie Ehegatten?
Auch wenn eine solche Regelung kommt, kann sie kein Ersatz etwa für eine Vorsorgevollmacht sein. Für jemanden, der sich über längere Zeit selbst nicht äußern kann, gibt es sehr viele Dinge zu entscheiden. Eine Notfallregelung kann das nicht alles erfassen. Ich rate Ehegatten und Familien dazu, sich gegenseitig Vorsorgevollmachten zu erteilen.
Wie geht das?
Vorlagen gibt es im Internet, zum Beispiel bei den Justizministerien. Die füllt man aus und lässt sie beispielsweise von der Betreuungsbehörde beglaubigen. Informieren kann man sich bei Betreuungsbehörden und Betreuungsvereinen. Für eine individuelle Beratung, etwa in Vermögensfragen, empfiehlt sich der Gang zum Notar.
Sehen Sie darüber hinaus Handlungsbedarf für weitere Anpassungen im Betreuungsrecht?
Die Grundstruktur des Betreuungsrechts mit den beiden Säulen gesetzliche Betreuung und Vorsorgevollmacht hat sich bewährt. Ich würde sogar von einem Erfolgsmodell sprechen. Nicht ohne Grund haben die Bürger bei der Bundesnotarkammer mittlerweile drei Millionen Vollmachten freiwillig hinterlegt. Das heißt aber nicht, dass man das Betreuungsrecht nicht weiterentwickeln sollte.
Wo?
Es gibt Probleme an den Schnittstellen des Betreuungsrechts zum Sozialsystem. Älteren Menschen macht das Sozialsystem viele hilfreiche Angebote. Sie zu beantragen ist aber teils sehr kompliziert. Die alten Leute sitzen dann daheim und wissen sich mit den Formularen nicht zu helfen. Mobil sind sie oft nicht mehr und können folglich auch nicht in eine Beratungsstelle. Da wird dann seitens der Sozialleistungsträger schnell nach einem Betreuer gerufen, obwohl die Menschen ansonsten zum Beispiel mit Hilfe eines ambulanten Pflegedienstes noch ganz gut über die Runden kommen. Das ist mit ein Grund für die hohe Zahl an Betreuungen. Nicht alle scheinen mir erforderlich. Bei der derzeitigen Reform des Sozialrechts durch das Teilhabegesetz wird das leider nicht berücksichtigt.
Wie gut sind die Betreuer und Vorsorgebevollmächtigten eigentlich?
Viele kommen unmittelbar aus dem familiären Bereich. Wenn es keine Vorsorgevollmacht gibt, werden ja in der Regel Angehörige als Betreuer bestellt. Die Basis ist die persönliche Beziehung, das funktioniert im Großen und Ganzen sehr gut. Trotzdem sehe ich ein Problem.
Welches?
Für Angehörige, insbesondere wenn sie Betreuer werden, sind die Rechenschaftspflichten gegenüber den Betreuungsgerichten oft nur schwer zu erfüllen. Da sind in der Regel ja keine Experten, die über buchhalterisches Fachwissen verfügen. Doch nicht nur dabei bräuchten die Angehörigen Rat und Unterstützung, sondern auch bei der eigentlichen Betreuung.
Weshalb?
Wenn ein Sohn als Betreuer etwa gegen den Willen des Vaters entscheiden muss, dass eine Unterbringung im Pflegeheim nicht mehr aufgeschoben werden kann, dann ist das unter Umständen sehr konfliktbeladen und verlangt eine gute Unterstützung. Betreuungsvereine sind eine wichtige Anlaufstelle, aber die Vereine werden dafür vom Staat nicht oder nur unzureichend finanziell gefördert. Das ist sehr kurzsichtig gedacht.
Warum?
Scheitern Angehörige als Betreuer, müssen Profis ran, also Betreuer von Berufs wegen. Das wird für den Staat deutlich teurer. Ist nämlich nicht genügend Vermögen vorhanden, um den Betreuer zu vergüten, springt die Staatskasse ein. Der Staat muss deshalb daran interessiert sein, dass die Angehörigen die Betreuung schaffen.
Wie gut schützt das Betreuungsrecht Menschen davor, zum Spielball der Eigeninteressen eines Betreuers aus der eigenen Familie werden?
Natürlich gibt es Fälle, in denen Bevollmächtigte oder Betreuer als Angehörige nach dem Motto „Jetzt bestimme ich“ auftreten und vielleicht schon durchblicken lassen, dass sie das zu betreuende Vermögen als ihr Erbe betrachten. Womöglich trennen sie auch nicht so richtig zwischen ihrem Vermögen und dem des Betreuten. Es handelt sich aber um Ausnahmefälle. Bei ca. 3 Millionen Vollmachten und 750 000 Betreuungen bundesweit, die von Angehörigen ausgeübt werden, sind sie nicht zu verhindern.
Und die professionellen Betreuer?
Sie unterliegen einer stärkeren Kontrolle, nicht nur durch das Gericht, sondern auch durch die Betreuungsbehörde. Trotzdem besteht auch hier die Gefahr des Missbrauchs, so wie bei allen Berufen, in denen Menschen für andere Sorge tragen. Ich glaube aber, dass in aller Regel ordentlich gearbeitet wird. Auch deshalb kann ich Forderungen, im Betreuungsrecht müssten Regelungen gegen Erbschleicherei verankert werden, nicht unterstützen. Die bestehenden Gesetze reichen völlig aus, um Erbschleicher zu bestrafen.