Seit 40 Jahren vermittelt Christine Lindenmayer zwischen leiblichen Müttern und Adoptionsbewerbern. Im Zentrum steht dabei das Kindeswohl, das häufiger denn je gefährdet ist.
Stuttgart - Christine Lindenmayer vom Jugendamt der Stadt Stuttgart würde sich eine fairere Behandlung für Frauen wünschen, die ein Kind zur Adoption freigeben.
Frau Lindenmayer, wie helfen Sie Frauen, die ihr Kind zur Adoption freigeben möchten?
Den Schwangeren sage ich: „Bringen Sie erst mal Ihre Schwangerschaft gut zu Ende.“ Wir besprechen ihre Situation und was das Jugendamt für sie tun kann. Wenn die Mütter die Väter benennen wollen, werden sie in das Verfahren einbezogen. Es ist ein guter Start, wenn beide zustimmen. Wenn nicht, entscheidet die Frau, was geschehen soll, wenn das Kind auf der Welt ist. Sie kann bei der Auswahl der Adoptionseltern mitentscheiden und sie kennenlernen. Aber durch die Geburt kann sich eben noch viel verändern.
Zum Beispiel?
Unter Umständen wollen die Mütter ihr Kind dann doch behalten oder die Option haben, es später noch zu sich zu nehmen. In diesem Fall können die Kinder in Kurzzeitpflege gegeben werden zu guten fähigen Familien, die das Neugeborene aufnehmen und routiniert versorgen. Gefühlsmäßig will jede Frau ihr Kind annehmen. Die Adoptionsfreigabe wird vom Verstand getragen.
Welche Gründe wiegen schwerer als Gefühle?
Triftige Gründe, zumeist ein ganzes Sammelsurium. Eine Frau muss immer etwas zu verlieren haben, wenn sie diese Entscheidung trifft. Zum Beispiel die Möglichkeit, eine Ausbildung zu machen. Oder ihre älteren Kinder ohne Entbehrungen aufwachsen zu lassen. Meist kommen ungute Partnerschaftsverhältnisse hinzu, aber auch das Alter – zu jung, zu alt – kann eine Rolle spielen.
Kennen Sie alle Mütter aus Adoptionsfällen?
Leider nein. 2018 hatten wir zur Hälfte anonyme Abgaben; die Kinder wurden in die Babyklappe gelegt oder in einer Klinik anonym entbunden. Neu ist die vertrauliche Geburt, bei der die Frauen unter einem Decknamen ihr Kind zur Welt bringen.
Warum wollen Frauen anonym bleiben?
Weil die Gesellschaft immer weniger akzeptiert, dass eine Mutter ihr Kind zur Adoption freigibt. Man denkt, in diesem reichen Land gibt es dafür keine Gründe. Weit verbreitet ist die Ansicht, ein Kind gehöre zur Mutter, egal, wie deren Situation aussieht, und egal, welche Schwierigkeiten auf Mutter und Kind zukommen. Die Frauen werden stigmatisiert als Rabeneltern.
Schlägt sich das in den Fallzahlen nieder?
In der Nachkriegszeit hatte das Jugendamt Stuttgart 300 Kinder im Jahr, die neue Eltern brauchten. 1980 hatte ich im Jahr noch 30 Kinder, 1999 waren es im Jahr noch zehn Kinder. Die Mütter entscheiden sich heute oft für eine Pflegefamilie, die Vollzeitpflege hat die Adoption abgelöst.
Was ist daran schlecht?
Die Rechtssituation ist unsicher. In den vergangenen Jahren haben Familienrichter Kinder, die schon drei oder vier Jahre in Vollzeitpflege und dort fest verwurzelt waren, in ihre Herkunftsfamilien zurückgegeben, ohne auf das Kindeswohl Rücksicht zu nehmen. Wir haben ein primäres Elternrecht, wir leisten Eltern Hilfe zur Erziehung, aber wir helfen den Kindern nicht oder erst dann, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. Ein Kind braucht aber Sicherheit zum Aufwachsen. Wenn die Anfangszeit geprägt ist von Ungeborgenheit, wird der Mensch immer damit kämpfen, dass die Basis seines Seins brüchig ist.
Hat die Stadt genug Pflegeeltern?
Wir haben Probleme, neue Pflegefamilien zu bekommen. Die Menschen wollen keine Beziehungen auf Zeit eingehen, sie wollen Sicherheit in ihren Beziehungen. Wenn sie ein Kind aufnehmen, wollen sie dieses Kind auch ins Erwachsenenleben führen. Deshalb wollen die Menschen immer noch die Adoption. Ich habe immer noch ausreichend gute, fähige Bewerber für Adoptionen. Adoption ist das Sicherste, was ein Kind bekommen kann, wenn es nicht in der Herkunftsfamilie aufwachsen kann.
Wer adoptiert Kinder?
Adoptionsbewerber sind im Jahr 1999 im Schnitt 35 bis 40 Jahre alt gewesen, 1980 waren sie im Schnitt 30. Adoptionsbewerber sind zu 99 Prozent ungewollt kinderlos, eine Kinderwunschbehandlung kostet sie mindestens fünf Jahre. Und es sind überwiegend Akademiker, die lange Ausbildungszeiten hinter sich haben.
Gibt es die Altershöchstgrenze noch?
Einer soll unter 40, der andere unter 45 Jahre alt sein bei der Aufnahme des ersten Kindes. Als ich 1980 hier angefangen habe, durfte ich laut der damaligen Bundesrichtlinien keinem Ehepaar über 35 Jahren einen Säugling geben. Heute könnte ich bei einer solchen Altersgrenze kein Kind mehr vermitteln.
Nach welchen Wünschen werden Familien und Adoptivkinder zusammengebracht?
Wir machen kein Geschenk, sondern wir geben einem Paar eine Aufgabe, das diese übernehmen möchte. Bei unserem dritten Aufnahmegespräch fragen wir deshalb sehr präzise, was sich die Adoptionsbewerber zutrauen. Zum Beispiel, was die Gesundheit des Kindes angeht oder dessen ethnische Herkunft.
Mussten Sie Bewerber ablehnen?
Ja, ich habe kein Interesse an Karteileichen. Es gab Krankheitsgründe oder dass es die psychosoziale Situation nicht zugelassen hat. Dann musste ich ablehnen.
Wie bereiten Sie Adoptionseltern vor?
Ernsthafte Adoptionsbewerber müssen drei Termine wahrnehmen: unseren Hausbesuch, ein Interview zur Vergangenheit – wir wollen ihr soziales Erbe kennenlernen –, und zuletzt fragen wir: Was für ein Kind stellt ihr euch vor? Außerdem gibt es Info-Veranstaltungen zum Beispiel zur Babyklappe, zur Situation abgebender Mütter, über juristische und pädagogische Fragen. Da die Anwärter in der Regel mindestens zwei Jahre lang Adoptionsbewerber sind, ist dafür genügend Zeit.
Gab es missglückte Adoptionsverhältnisse?
Eine Familie hatte ein hochbegabtes Kind, für die Eltern war das eine extreme Herausforderung. Oder es ist Substanzenmissbrauch vor der Geburt da, den wir nicht erkennen konnten, und plötzlich gibt es Schulprobleme, Konzentrationsprobleme oder Teilleistungsstörungen beim Kind. Es gibt Situationen, wo wir den Eltern nicht sagen können, was auf sie zukommt.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Alles wäre leichter für die adoptierten Kinder, wenn Adoptionsfreigaben in der Gesellschaft besser angesehen wären. Wenn man Mütter nicht fair behandelt, kriegen die Adoptierten das in Kita und Schule, spätestens als Jugendliche zu hören. Es ist mein großer Wunsch, dass sich das ändert. Ich habe in den 40 Jahren hier keine einzige Mutter erlebt, die sich diese Entscheidung leicht gemacht hat. Man sollte davor großen Respekt haben.