Das Landeskriminalamt erarbeitet ein neues Konzept, um Frauen im öffentlichen Raum besser zu schützen. Foto:  

Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) will Sexualstraftätern in diesem Jahr den Kampf ansagen. Die Präventionsexpertin des Landeskriminalamts (LKA), Gabriele Renner, skizziert die Pläne und Erwartungen.

Stuttgart - LKA-Expertin Gabriele Renner über Sexualdelikte, die Tücken der Statistik und den neuen kriminalpräventiven Schwerpunkt der Polizei.

Frau Renner, laut Landesinnenminister Thomas Strobl soll der kriminalpräventive Schwerpunkt 2019 auf den Sexualstraftaten liegen. Inwieweit ist das nötig?

Wir haben Sexualdelikte schon in der Vergangenheit in der Prävention immer mal wieder zum Thema gemacht. Mal lag der auf dem sexuellen Missbrauch von Kindern, mal auf K.o.-Tropfen im Glas, vor denen wir gerade jetzt wieder zur Faschingszeit warnen. Nach der Silvesternacht in Köln haben wir auch ein Merkblatt mit Verhaltenstipps herausgegeben. Das war alles richtig, aber wir hatten nie eine Konzeption in der Gänze.

Und an der arbeiten Sie jetzt?

Ja, wir erarbeiten derzeit eine neue Gesamtkonzeption „Sicher. Unterwegs. – Gewalt gegen junge Frauen in der Öffentlichkeit“. Wir wollen so das Sicherheitsgefühl stärken, alle Eventualitäten von A bis Z abbilden und Handlungsoptionen aufzeigen. Uns ist eine Botschaft ganz arg wichtig: Frauen sollen den öffentlichen Raum nicht meiden, sie sollen nach wie vor selbstbewusst und aktiv rausgehen.

Das sagt sich so leicht. Fälle wie die Gruppenvergewaltigung in Freiburg im Oktober verunsichern die Bevölkerung, vor allem den weiblichen Teil.

Wenn man sich aber anschaut, was für eine Kriminalitätsfurcht herrscht im Vergleich zu dem, wie die Zahlen aussehen, dann steht das in keinem Verhältnis.

Aber die Sexualstraftaten haben in den vergangenen zwei, drei Jahren doch zugenommen.

Durch Rechtsänderungen sind die Fallzahlen der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung seit dem Jahr 2017 aber nicht vergleichbar mit den Vorjahren, das ist ganz wichtig. Sonst gibt es Fehlinterpretationen. Im November 2016 wurden Straftatbestände neu eingeführt und geändert. Eine der Neuerungen, der Paragraf 184 i Strafgesetzbuch, ist die sexuelle Belästigung. Solche Taten waren vorher als Beleidigung auf sexueller Grundlage erfasst – unter sonstigen Delikten. Das bedeutet: wir haben teilweise nur eine Verlagerung der Statistik.

Die neue Polizeiliche Kriminalstatistik für 2018 liegt zwar noch nicht vor. Aber können Sie schon einen Trend für das vergangene Jahr erkennen?

Es lässt sich bereits sagen, dass die Fallzahlen zwar nicht drastisch, aber merklich steigen werden. Das kann man so interpretieren, dass die neuen Straftatbestände jetzt langsam bekannt werden. Auch die „Nein heißt Nein“-Debatte und die „me too“-Bewegung haben die sexuelle Belästigung noch mal deutlicher ins öffentliche Bewusstsein gerückt und die Hemmschwelle reduziert, bei der Polizei eine Anzeige zu erstatten. Dazu muss man wissen: Der Sexualbereich ist ein Stiefkind gewesen vom Anzeigenverhalten her. Das Dunkelfeld ist enorm.

Strafanzeigen werden weiter steigen

Wie erklären Sie sich das?

Rund die Hälfte der von uns aufgenommenen Delikte geschieht im sogenannten sozialen Nahraum. Das bedeutet: der Täter ist der Ehemann, der Partner oder eine andere Person aus dem persönlichen Umfeld. Viele dieser Taten werden aber erst gar nicht gemeldet, weil ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, es Kinder oder die Hoffnung gibt, dass sich doch wieder alles zum Guten dreht. Und auch bei Taten im öffentlichen Raum kostet es die betroffenen Frauen vielfach Überwindung, zur Polizei zu gehen und auszusagen. Oft spielt Angst vor einer erneuten Viktimisierung eine Rolle. Sie fragen sich: Habe ich womöglich einen Beitrag geleistet, dass es so weit kam? Diese Angst wollen wir nehmen, auch das ist ein wichtiger Aspekt unserer neuen Konzeption.

Können Sie deren Inhalt noch etwas näher ausführen – was macht die Polizei konkret?

Letztlich geht es vor allem darum, vor die Lage zu kommen: Was kann ich als Frau tun, um mich zu schützen und um gar nicht erst in eine gefährliche Situation zu kommen? Wie setze ich klare Grenzen? Was mache ich und wie spreche ich Zeugen oder potenzielle Helfer an, wenn doch eine unangenehme Situation droht oder etwas passiert ist? Wie läuft das Strafverfahren bei der Polizei ab? Und wie sieht es aus mit dem Opferschutz? Wir als LKA setzen den Rahmen, die konkreten Aktionen vor Ort liegen dann aber in der Verantwortung der regionalen Polizeipräsidien und deren Partner wie zum Beispiel den Kommunen. Die kennen die örtlichen Besonderheiten. Denn klar ist auch: Das ist nicht allein ein Thema der Polizei, sondern der ganzen Gesellschaft.

Welchen Effekt erwarten Sie durch die verstärkte Präventionsarbeit?

Wahrscheinlich ist, dass die Strafanzeigen wegen Sexualdelikten noch weiter steigen werden – weil mehr Opfer Anzeige erstatten und damit das Dunkelfeld aufgehellt wird. Das heißt deshalb nicht, dass es unbedingt mehr dieser Straftaten gibt. Indem wir mehr darüber aufklären, werden letztlich mehr Betroffene eines sexuellen Übergriffs dazu bereit sein, ihr Schamgefühl zu überwinden und eine Strafanzeige zu erstatten. So paradox das klingt: Steigende Zahlen wären für uns ein Zeichen, dass unsere Konzeption greift.