Fifa-Schiedsrichter Urs Meier (Champions League 2004): Verwässerte Regeln, respektlose Profis Foto:  

Schiedsrichter sind die letzte Instanz des Spiels. Schiri-Experte Urs Meier beklagt im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft eine Verwässerung der Regeln, mangelnden Respekt von Spielern und Trainern und kritisiert den zögerlichen Deutschen Fußball-Bund (DFB).

Stuttgart - Urs Meier leitete in 27 Jahren 883 Spiele. Während der Fußball-Europameisterschaft arbeitet der frühere Weltklasse-Schiedsrichter als Fernsehexperte. Er fordert Profi-Schiedsrichter, um den erhöhten Anforderungen des Spiels wieder gerecht zu werden.

Herr Meier, mit 45 Jahren ist für einen Schiedsrichter international Schluss, national mit 47. Ist das noch zeitgemäß?
Nein, überhaupt nicht. Das komplette Schiedsrichterwesen müsste sich dringend modernisieren.
Was missfällt Ihnen?
Der Fußball hat sich rasant weiterentwickelt. Die Schiedsrichter müssen Schritt halten. Und das funktioniert nur, wenn sie sich professionalisieren.
Die deutschen Schiedsrichter gelten als die besten der Welt . . .
. . . und mussten in der vergangenen Bundesliga-Saison ziemlich viel Kritik einstecken.
Das ist kein Zufall?
Nein, in Deutschland ist immer noch eine alte Denkweise vorhanden. Die Schiedsrichter führen immer noch Diskussionen, wie sie der Fußball selbst in den siebziger Jahren geführt hat. Ist ein Profi ein besserer Fußballer als der Amateur? Das ist heute doch gar keine Frage mehr. Da sieht man mal, wie rückständig das Schiriwesen noch immer ist.
In Deutschland überwiegen die Bedenken.
Ich weiß, aber glauben Sie mir: In zehn, fünfzehn Jahren ist das auch in der Bundesliga keine Frage mehr. Da wird man sich dann sagen: Wie doof waren wir, dass wir das so lange verhindert haben.
Was kann ein Profi-Schiedsrichter besser?
Er ist fitter, er lernt schneller aus seinen Fehlern, er kann das Spiel besser lesen, er analysiert gründlich jede Partie, er kann sich körperlich und mental gezielter auf die Spiele vorbereiten und danach besser regenerieren.
Der Schiri trainiert wie ein Profikicker?
Drei Tage pro Woche kommen alle nach Frankfurt und arbeiten dort zusammen. Sie haben Coaches, die sie montags, dienstags und mittwochs trainieren. Sie tauschen sich über Mannschaften, Trainer, Spieler und ihre Erfahrungen vom vergangenen Spieltag aus. Sie bereiten ihre Spiele nach, machen Praxisübungen, stimmen sich in der Regelauslegung ab, besprechen eine klare Linie. Sie schulen ihr Auge, erfahren alles über Taktiken, und sie arbeiten mit Trainern zusammen, die den Fußballalltag bestens kennen. Donnerstag dient der Erholung und Vorbereitung auf das nächste Spiel, freitags gehen sie wieder auf Reisen. Wissen Sie, ich bin heute noch froh, dass ich Jürgen Klopp kennenlernen durfte. Leider viel zu spät. Ich hätte weniger Fehler gemacht.
Klopp, der Schrecken aller Schiedsrichter.
(Lacht) Er hat mir jedenfalls die Augen geöffnet für gewisse Spielsituationen.
Nennen Sie bitte ein Beispiel.
Taktische Fouls werden nur dann mit Gelb geahndet, wenn sie in der Hälfte der verteidigenden Mannschaft begangen werden. Im heutigen One-Touch-Fußball leitet ein Team aber den Gegenzug oft schon nach der Balleroberung am eigenen Strafraum ein, was der Gegner häufig mit taktischen Fouls sofort unterbindet.
Und dafür meist nicht die Gelbe Karte kassiert.
Ganz genau. So schützt man das Spiel einer Mannschaft nicht. Das wird dem heutigen Fußball nicht mehr gerecht. Alles ist schneller, athletischer und durchdachter geworden. Der Schiri muss im Spiel wissen, was als Nächstes passiert und warum. Das muss er einstudieren. So kann er viele Fehler vermeiden. In der vergangenen Saison gab es so viele Fehlentscheidungen in der Bundesliga wie selten. Das muss dringend angepackt werden. Die Schiris halten mit der Entwicklung des Fußballs nicht mehr Schritt.
Eine Sicht, die der DFB so nicht teilen wird.
Leider! Der Deutsche Fußball-Bund hat so viele Schiedsrichter wie kein anderer Verband auf der Welt. Der DFB muss eine Führungsrolle übernehmen. Er hat die besten Fußballer der Welt. Warum sagt er nicht, dass er in den nächsten fünf Jahren auch die besten Schiris der Welt haben will, und erarbeitet ein entsprechendes Konzept?
Was macht ein Profi-Schiri nach dem Karriereende?
Er ist ein gefragter Mann in der Wirtschaft, weil er entschlussfreudig ist, weil er mit Druck zurechtkommt, über Menschenkenntnis verfügt und mit schwierigen Charakteren umgehen kann. Er wird während seiner Karriere natürlich weitergebildet, er lernt zum Beispiel Sprachen oder erwirbt wirtschaftliche Fachkenntnisse, er ist im besten Sinne eine Spitzenkraft mit Führungsqualitäten.
Das muss er auch sein, Spieler und Trainer testen immer häufiger die Grenzen seiner Belastbarkeit.
Weil wir Schiedsrichter viel zu großzügig sind. Wir spüren nicht mehr, wenn Trainer versuchen, unser Spiel zu manipulieren und Hektik reinzubringen. Wenn sie die Spieler aufhetzen und Druck aufbauen mit Hilfe der Zuschauer.
Jürgen Klopp ist der beste Beweis: Emotionen gehören zum Spiel.
Dagegen ist ja auch nichts einzuwenden. Wenn aber die komplette Besetzung der Trainerbank bei jedem Foul aufspringt und geschlossen Gelbe oder Rote Karten fordert, wenn sie bei jedem Pfiff abwinken und so dem Publikum dokumentieren, dass der Schiedsrichter einen Müll pfeift, dann richtet sich das gegen die Persönlichkeit des Unparteiischen. Das darf er sich nicht gefallen lassen, da verliert er schnell an Autorität.
Was empfehlen Sie?
Dass die Verbände mal wieder klarmachen, wie die Regeln lauten, und die Schiedsrichter ermuntern, gegen solche Exzesse vorzugehen. Der Respekt vor den Schiedsrichtern ist bei vielen Trainern und Spielern verloren gegangen. Nur ein Beispiel: Die Spieler haben den Schiedsrichter nicht anzufassen. Punkt. Aus! Sie dürfen auch nicht Gelbe Karten für den Gegenspieler fordern. Wer eine Gelbe Karte fordert, der kriegt sie!Wir müssen den Umgang miteinander wieder auf ein erträgliches Niveau heben. So wie zurzeit kann es nicht weitergehen.
Die Fußball-Europameisterschaft liefert demnächst den Anschauungsunterricht.
Ich hoffe, im positiven Sinne. Denn die Weltmeisterschaft 2014 war ein Sündenfall.
Inwiefern?
Es wurden unfassbar viele Unsportlichkeiten nicht mehr geahndet. Es gab ja fast keine Gelben Karten mehr. Es haben sich viele Regelverstöße einfach so eingeschlichen, ohne dass sie geahndet werden. Man denkt, es ist normal. Das ist es aber nicht.
Muss das Regelwerk verschärft werden?
Nein, es ist gut. Man muss es nur umsetzen. Am besten schon im Eröffnungsspiel. Mit einem der besten Schiedsrichter. Das setzt Maßstäbe.
Bei der EM pfeifen 18 Schiris mit ihren Assistenten, aus Deutschland ist Felix Brych dabei. Wie schätzen Sie ihn ein?
Natürlich kenne ich Felix Brych. Er wäre eine Kandidat für das Eröffnungsspiel. Er gehört sicher zu den zehn besten europäischen Schiedsrichtern. Unter den 18 bei der EM gibt es natürlich auch große Leistungsunterschiede, aber insgesamt werden wir eine sehr ordentliches Niveau erleben. Da bin ich sicher. Auch deshalb, weil die Schiedsrichter in diesen sechs Wochen sehr professionell arbeiten können – mit Pierluigi Collina als Coach.
Wer ist in Ihren Augen derzeit der beste Schiedsrichter?
Das ist schwierig zu sagen. Aber Cüneyt Cakir aus der Türkei hat einen extrem guten Lauf.
Bei der EM gibt es erstmals die Torlinientechnik.
Die Torlinientechnik ist sinnvoll. Manchmal kann ein Schiedsrichter eben beim besten Willen nicht sehen, ob der Ball über der Linie ist. Dann wird er, wie bei der WM 2010 in Südafrika, mit Schimpf und Schande nach Hause geschickt. Es ist wie im Schach: Wir Schiedsrichter werden als Bauern geopfert. Wir müssten aber die Türme im Spiel sein. Das wird jetzt hoffentlich besser.
Sind Sie für den Videobeweis?
Ich finde gut, dass es jetzt erst mal Tests gibt, um Erfahrungen zu sammeln. Danach will man entscheiden, ob es den Fußball weiterbringt. Eine kluge Vorgehensweise. Generell sollte aber die Schiedsrichter den Videobeweis anfordern dürfen und nicht nur die Vereine. Bei den Tests ist es leider nicht so.
Wie werden Sie die EM erleben?
In Paris, im ZDF-Studio als Experte mit Oliver Kahn und Moderator Oliver Welke.
Riskieren Sie einen Endspieltipp?
Deutschland gegen Spanien.
Und wer pfeift?
Cüneyt Cakir!