Boris Palmer wundert sich, dass Angela Merkel „in den Augen vieler eine Art Madonna der Flüchtlinge geworden ist“. Foto: Horst Haas

Boris Palmer, Tübingens grüner Oberbürgermeister, hat ein Buch über Flüchtlingspolitik und die Grenzen des Zumutbaren geschrieben. Mit seinen Positionen zur Abschiebung und Strafverfolgung eckt er nicht nur innerhalb der Partei an.

Stuttgart - Für einen Grünen vertritt der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer ungewöhnlich restriktive Thesen zur Asylpolitik. Er plädiert für eine schnellere Abschiebung von straffälligen Asylbewerbern und für eine offene, ungeschönte Debatte über kriminelle Taten von Flüchtlingen.

Herr Palmer, Sie haben Ihrem Buch den Titel gegeben „Wir können nicht allen helfen“. Hat denn irgendjemand behauptet, wir könnten allen Flüchtlingen auf der Welt helfen?
Nein, das ist ja selbstverständlich. Trotzdem regt der Titel viel Leute auf. Warum? Sie lesen etwas anderes hinein: Das Boot ist voll. Deutschland den Deutschen. Das steht da aber nicht. Also nicht nur den Titel lesen, sondern was zwischen den Buchdeckeln steht, und dann erst urteilen.
Sie sagen: Als die Flüchtlingswelle im Herbst 2015 Deutschland erreichte, sei die öffentliche Debatte von Illusionen und einer naiven „Willkommenskultur“ geprägt gewesen. Ist das noch immer so?
Nein, das hat sich sehr verändert. Das waren drei extreme Monate, eine Krisensituation, in der wir die Kontrolle über die Grenzen und die Wirklichkeit aus dem Blick verloren hatten.
Damals behaupteten Sie auf Facebook: „Wir schaffen das nicht!“
Ja, das stimmt, ich hatte große Zweifel. So bin ich zum Asylpolitiker geworden.
Es hat sich aber gezeigt, dass wir die große Krise abgewendet haben. Sie haben sich also geirrt?
Wir sind in der Stadt des Philosophen Hegel, der die Dialektik erfunden hat. Aus These und Antithese wird Synthese. So auch hier. Es kamen bis zu 10 000 Flüchtlinge täglich nach Deutschland. Wäre der Zustrom gleichgeblieben, hätten wir inzwischen sieben Millionen Menschen mehr im Land, das hätte unser Aufnahmesystem völlig überfordert. Durch den Pakt mit der Türkei und die Entscheidung der Balkanstaaten, die Grenzen zu schließen, kommen heute nur noch 1000 Menschen pro Tag. Und wir sind jetzt sehr viel besser aufgestellt. Das schaffen wir.
Wir haben wieder eine Flüchtlingswelle, die Menschen kommen übers Mittelmeer. Sollen wir erneut die Grenzen dicht machen?
Es ist ein moralisches Dilemma. Man darf niemanden ertrinken lassen. Aber das Wissen, dass es Rettungsmöglichkeiten gibt, lässt mehr Flüchtlinge das Risiko der Überfahrt wagen. Die Schlepper verlassen sich auf die Seenotretter und setzen selbst die schlechtesten Boote ein. Der französische Präsident Macron will deswegen Hotspots zur Asylantragstellung in Libyen einrichten. Das wäre ein Ausweg. Nur Abschottung reicht aber nicht. Wir brauchen legale Wege nach Europa durch Kontingente und ein Einwanderungsgesetz.
Sie haben mal gesagt, dass die Bundesregierung die Kommunen und die Länder in der Flüchtlingsthematik im Stich gelassen hat. Haben Sie das Gefühl noch immer?
Nein, das hat sich verbessert. Erstaunlich ist aber, dass Frau Merkel in den Augen vieler eine Art Madonna der Flüchtlinge geworden ist, weil sie die Grenzen geöffnet hat. Dabei ist ihre Politik längst alles andere als flüchtlingsfreundlich. In den vergangenen zwei Jahren hat sie zusammen mit Herrn Seehofer eine Serie von Gesetzesverschärfungen und Abwehrmaßnahmen beschlossen. Nur fällt das kaum auf.
Im Zehnpunkteplan der Grünen steht, dass die Partei in Berlin nur in eine Koalitionsregierung gehen wird, die Abschiebungen in Kriegs- und Krisengebiete verbietet. Halten Sie das für richtig?
Das halte ich für meine Partei für richtig. Es ist unsere Aufgabe, ein großzügiges humanitäres Asylrecht zu verteidigen.
Was denken Sie persönlich?
Ich halte die Abschiebung von unbescholtenen Asylbewerbern nach Afghanistan für falsch. Ganz anders ist das bei verurteilten schweren Straftätern. Wenn die Hälfte der Strafe verbüßt ist, sollte man sie abschieben, auch nach Afghanistan – zur Abschreckung und zur Sicherheit für unser Land.
Ähnliches fordert auch die AfD.
Ein Vorwurf, den ich regelmäßig höre und der jede Debattenkultur zerstört. Eine Übereinstimmung in einer Sachforderung heißt nicht, dass ich der AfD nahe stehe. Sonst dürften wir Grüne nicht mehr gegen TTIP sein. Das lehnt die AfD auch ab.
Haben Sie Sorge, dass die Grünen Sie eines Tages aus der Partei werfen?
Nein, das wäre völlig abstrus. Das Streiten über Positionen gehört zur Politik dazu. Unser Wahlprogramm zu Asyl kann ich voll und ganz mittragen. Sie haben mit der Abschiebung von Straftätern den einzig relevanten Dissenspunkt schon getroffen.