Nina Großmann berät Eltern und Schüler Foto: factum/Granville

Diskutieren Sie mitFür Eltern von Viertklässlern stehen Gymnasien und Realschulen weiter hoch im Kurs. Was aber tun, wenn sich herausstellt, dass der Nachwuchs in der fünften Klasse Schulprobleme hat? Wir sprachen mit einer Schulpsychologin.

StuttgartFrau Großmann, die weiterführenden Schulen klagen oft über ihre Neuzugänge: Den Kindern fehlten gewisse Grundtugenden. Ist das so?
Kinder erwerben in der Primarstufe Grundkenntnisse in Deutsch, Mathematik und Natur- und Geisteswissenschaften. Darüber hinaus wird die Arbeit in Gruppen trainiert und Selbstorganisation eingeübt. Das schafft nicht jedes Kind in der Weise, wie es sich die weiterführenden Schulen vorstellen, so mancher Fünftklässler vergisst halt wiederholt sein Heft, das Buch oder sogar die Hausaufgaben, was das Unterrichten für die Lehrkräfte erschwert.
Was macht den Start am Gymnasium schwerer als auf der Realschule?
Der Übergang aufs Gymnasium ist kein weicher Übergang, eher eine harte Landung. Die Schule setzt nicht bei dem an, was das Kind mitbringt, sondern sie setzt neue, gymnasiale Maßstäbe. Damit haben nicht nur Kinder, die eine andere Empfehlung hatten, oft noch Schwierigkeiten. Die Lehrkräfte bieten in der fünften und sechsten Klasse ein Training für das Lern- und Arbeitsverhalten an. Das ist hilfreich. Eltern sollten nachfragen, welche anderen Formen von Unterstützung sonst noch angeboten werden.
Wenn sich die Eltern tatsächlich falsch entschieden haben, was dann?
In dem Fall muss man zuerst genau ergründen, welche Schwierigkeiten das Kind an der Schule hat. Dabei helfen Lehrer, Beratungslehrer, Psychologen. Sie klären, ob ein Schüler beispielsweise nur unorganisiert ist oder ob er überfordert ist.
Sollte man das Kind dann gleich von der Schule nehmen?
Nein, man sollte ihm Zeit geben, statt in Hektik zu verfallen. Es gibt Kinder, die das Rüstzeug für die Organisation des Lernalltags nicht mitbringen, aber eine große Begabung haben. Man sollte auf jeden Fall mit dem Kind sprechen, man sollte auch die Hausaufgabenbetreuung wahrnehmen und beobachten, wie das Kind seine Freizeit verbringt: Treibt es Sport oder spielt draußen mit anderen, tut es sich beim Lernen mit großer Wahrscheinlichkeit leichter als ein Stubenhocker.
Ist ein Leistungsabfall ein eindeutiges Zeichen für die „falsche“ Schule?
Nein, auch ein Kind mit großer Begabung kann zum Schulversager werden, wenn ihm zum Beispiel die Motivation fehlt oder Probleme in der Familie auftauchen. Ob ein Kind Erfolg hat, hängt auch wesentlich davon ab, ob sich die Eltern für das, was es tut, und für die Schule interessieren.
Wer hilft Eltern bei der Einschätzung?
Klassenlehrer, Beratungslehrer, aber auch die Schulpsychologen, die an den schulpsychologischen Beratungsstellen im Land- und Stadtkreis zu finden sind. Mit diesen Partnern sollten die Eltern das Gespräch suchen.
Und woran sollten sich Eltern schon vor der Wahl der weiterführenden Schule halten?
Am Ende der vierten Klasse sollten Kinder Texte verstehen und lesen können sowie in der Lage sein, kleinere Aufsätze zu schreiben. In Mathematik muss ein Kind sich mit den Grundrechenarten auskennen. Der Blick einer geschulten Grundschullehrerin auf das Kind ist wichtig. Wie leicht tut sich das Kind mit den gestellten Aufgaben? Kommt es mit unterschiedlichen Anforderungen zurecht? Die Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung ist zwar weggefallen, ihre Gültigkeit allerdings nicht.

Zur Person: Nina Großmann in Dresden geboren

1963 in Dresden geboren. Besucht die Polytechnische Oberschule und macht Abitur sowie gleichzeitig eine Berufsausbildung zum Facharbeiter Maschinen- und Anlagenmonteur; arbeitet ein Jahr lang in ihrem Beruf an der Universität Dresden; von 1984 an Studium der Psychologie in Dresden und St. Petersburg; arbeitet am Fraunhofer-Institut für Personalmanagement und macht sich dann selbstständig in der Erwachsenenbildung; seit 2007 Schulpsychologin; seit 2011 Fachbereichsleiterin der Schulpsychologischen Beratungsstelle in Ludwigsburg; Vorsitzende Landesverband der Schulpsychologen in Baden-Württemberg.

Gymnasium weiter erste Wahl

Die Grundschulempfehlung für Viertklässler hat seit vier Jahren zwar noch Gültigkeit, ist aber nicht mehr verbindlich für Eltern. Seitdem stieg die Zahl der Anmeldungen an Gymnasien in Stuttgart signifikant. Zu Beginn des Schuljahrs 2015/16 sind knapp 58 Prozent der Viertklässler in Gymnasien eingeschult worden. Zum Schuljahr 2016/17 scheint dieser Trend erstmals rückläufig zu sein. Den vorläufigen Zahlen nach wurden laut Regierungspräsidium Stuttgart 2272 Viertklässler an Stuttgarter Gymnasien angemeldet, 781 in den Innenstadtschulen, 1491 in den Vororten – 43 Schüler weniger als im Vorjahr. Die Zahl der Viertklässler ist in etwa gleich geblieben: 2015/16 waren es 1179, im Jahr 2016/17 sind es 1185. Die Realschule war im vorigen Schuljahr noch bei knapp 28 Prozent die Schule erster Wahl, die Werkrealschulen verloren weiter Schüler, meist an die Realschulen und Gemeinschaftsschulen. Zurzeit besuchen noch knapp vier Prozent der Fünftklässler in Stuttgart eine Werkreal-, acht Prozent eine Gemeinschaftsschule. Die neuen Zahlen zur Entwicklung an diesen Schulen lagen bisher nicht vor; mit einem weiteren Rückgang an den Werkrealschulen wird gerechnet.