Jesuitenpater Klaus Mertes appelliert an die katholische Kirchenführung. Foto: dpa

Der Jesuitenpater Klaus Mertes aus St. Blasien hat viel zur Aufklärung von Missbrauch beigetragen. Im Interview fordert er eine stärkere Kontrollinstanz gegen sexuellen Missbrauch.

Herr Mertes, hat Sie die Anzahl der aktenkundigen Missbrauchsbeschuldigten in der katholischen Kirche überrascht?

Nein. Ich persönlich finde es eine besonders erschreckende Zahl im Bericht, dass es 96 Täter gibt, die mehr als 100 Taten begangen haben. Täter, die ganze Missbrauchssysteme aufbauten, mit dem Ziel zu missbrauchen, und alle behaupten nachträglich, nichts gemerkt zu haben – unfassbar.

Was hat Sie noch empört?

Ich bin selbst seit vielen Jahren erschrocken und alarmiert über den Missbrauch; diese neue Studie alarmiert mich nicht mehr als dies vorher der Fall war. Was neu ist, dass hier in kompakter Form Zahlen vorliegen über etwas, was ich aus vielen Begegnungen mit Betroffenen – ich sage entsprechend der Sprachregelung des Runden Tisches der Bundesregierung nicht Opfer, sondern Betroffene – in den letzten Jahren erfahren haben. Die Zahlen machen die Sache deutlicher. Wobei mir vollkommen klar ist, dass die Dunkelziffer nochmals größer ist, bei Betroffenen und bei Tätern.

Hat Sie nicht erschreckt, dass laut Studie der Missbrauch auch nach der Aufdeckung vieler Skandale nach 2010 noch weiterging?

Ehrlich gesagt, nein. Natürlich geht und ging das weiter. Das gilt – und das meine ich nicht defensiv – doch für unsere gesamte Gesellschaft. Das gilt für Schulen, Krankenhäuser, die Psychiatrien, Familien. Missbrauch gibt es überall, und das gilt natürlich auch für die Kirche. Etwas anderes anzunehmen, wäre naiv.

Kann die Studie glaubwürdig sein, wenn die Kirche sich selbst kontrolliert und an eine Untersuchungskommission die Daten liefert?

Woher sollten die Daten denn sonst kommen, wenn nicht von der Kirche? Der Glaubwürdigkeitspunkt liegt in einem Dilemma: Die bloße Tatsache, dass die Studie im Auftrag der Bischofskonferenz stattfindet, ist der Anlass dafür, dass sie – egal welche Ergebnisse sie bringt – unter Verdacht steht. Aber ich möchte hinzufügen: Erstens finde ich es gut, dass der Auftrag von der Deutschen Bischofskonferenz überhaupt gegeben worden ist. Das sollte man würdigen. Ich stelle mir mal vor, die Kirche in Italien oder Polen hätte einen solchen Auftrag erteilt - das wäre ein gewaltiger Schritt! Zweitens weisen die Autoren selbst auf die genannten Probleme hin. Die anonymisierte Form der Datenübermittlung hängt mit der Frage nach den Persönlichkeitsrechten zusammen, nicht nur mit den Rechten der Täterseite, sondern vor allem auch mit denen der Betroffenen, insbesondere derjenigen, die anonym bleiben wollen. Sie wollen nicht im Schaufenster stehen. Das Verhältnis von Aufklärung und Betroffenen-Schutz ist extrem komplex. Da gibt es keine leichten Lösungen.

Sie fordern eine innerkirchliche Instanz, die nicht im Auftrag der Hierarchie sondern autonom den Missbrauch untersucht. Warum?

Wegen des gerade geschilderten Dilemmas. Jede Institution, die eine Untersuchung in Auftrag gibt, um eigenes institutionelles Fehlverhalten – und darum geht es ja gerade beim Thema Vertuschen – zu untersuchen, gerät in Bezug auf diesen Auftrag in den Verdacht der Unglaubwürdigkeit. Die Kirche kann nicht in eigener Regie ihre Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. Es bleiben zwei Wege daraus heraus: Entweder gibt es eine gesellschaftlich legitimierte Institution, die von außen an die Kirche herantreten, Akten einfordern, prüfen und berichten kann; das war in Irland, Pennsylvannia und Australien der Fall. Die zweite Möglichkeit ist, dass die Kirche selbst so etwas wie Gewaltenteilung einführt, zum Beispiel eine Instanz, die in eigener Vollmacht an Diözesen, an Bischöfe oder sogar an den Papst herantreten und Akten einfordern kann, und die die Verantwortung für die Veröffentlichung übertragen bekommt und auch übernimmt. Eine gewaltenteilige Struktur täte auch der Weltkirche gut. In Afrika, Osteuropa und Ländern wie Indien verschränken die Kirchen doch jetzt die Arme, schauen auf die USA, Irland, Deutschland et cetera und sagen, schaut her, das ist der vergenderte, verschwulte, säkularisierte und glaubensferne Westen, in dem all diese Dinge passieren. Bei uns ist das nicht der Fall.

Können Sie verstehen, dass sich Menschen angesichts der neuen Studie von der Amtskirche abwenden?

Ja, natürlich, aber ich kenne auch viele, die sich schon vorher abgewandt haben. Ich habe Verständnis dafür, wenn sich Menschen von der Kirche abwenden. Ich habe aber auch Verständnis für die, die bleiben. Ich gehören zu den Letzteren. Es steht mir nicht zu, über andere zu urteilen.

Brauchen die Katholiken jetzt eine Reformdebatte? Muss nicht über das Zölibat nachgedacht werden, da der Anteil der nichtverheirateten Priester in der Täterschaft höher ist als der der verheirateten Diakone?

Natürlich steht der Zölibat in Frage, aber die Fixierung auf den Zölibat ist auch ein Symptom dafür, dass die Öffentlichkeit beim sexuellen Missbrauch vor allem auf das Thema Sexualität schaut. Doch das ist zu wenig, kann sogar auf die falsche Fährte führen. Grundlegender ist das Thema Macht: Es geht bei Missbrauch und seiner Vertuschung um Machtfragen. Zum Beispiel: Wenn der Zölibat geändert wird, dann haben wir in der katholischen Kirche verheiratete Männer als Priester, aber die Zugangsstruktur zum Priestertum bleibt männerbündisch. Da geht es um Ausgrenzung von Frauen vom Zugang zu Macht. Oder nehmen Sie Fragen der kirchlichen Lehre: Die Kirche muss ihr Verhältnis zur Homosexualität klären. Es ist die Homophobie, an der die Aufarbeitung immer noch scheitert. Nuntien und Kardinäle, die heute noch laut sagen, die schwulen Priester seien schuld; wenn man die hinauswerfe, sei das Problem geklärt. So verhindert Homophobie eine angemessene Problemanalyse und damit auch eine tiefer gehende Aufarbeitung. Wenn man sich zu sehr auf die Zölibatsfrage fixiert, kommt man an diese Themen gar nicht ran.