Bollwerk gegen die Wolkenschiebereien des Zeitgeists: der Schriftsteller Martin Walser Foto: dpa

An diesem Freitag feiert der Schriftsteller Martin Walser seinen neunzigsten Geburtstag. Ein Gespräch über Beständigkeit im Wandel der Zeit.

Stuttgart - Bloß keine Geburtstagsduselei, winkt der Jubilar ab. Keine Fragen zum Leben eines Schriftstellers im allgemeinen. Nein, reden möchte Martin Walser nur über sein jüngstes Buch „Ewig aktuell“, das in sich versammelt, was er im Laufe seines Lebens zu gegebenen Anlässen in das Zeitgeschehen geflochten hat: Reden, Aufsätze, Stellungnahmen zur jüngsten Geschichte. Und so wird dieses Gespräch dann doch eine Reise durch sein Leben, wo es mit unser aller Leben zusammenhängt.

Herr Walser, Sie prägen einmal, wo es um den Kreml-Flieger Matthias Rust geht, den Begriff „Ausdrucksereignis“ für Geschehnisse, in denen eine Epoche fassbar wird. Kann man ihr Buch „Ewig aktuell“ insgesamt als eine Sammlung solcher Ausdrucksereignisse begreifen?
Mit dem Kreml-Flieger kann ich mich nicht vergleichen. Das ist ja auch ganz selten, dass eine Aktion einen solchen Mehrwert hat wie die von Rust. Ich habe immer nur auf etwas reagiert. Die hier versammelten Texte sind streng auf einen jeweiligen Anlass bezogen, der mich völlig bestimmt hat.
Warum mussten Sie auf so vieles reagieren?
Das ist mir inzwischen selbst ein Rätsel, das ich mir nicht erklären kann. Ich fühlte mich andauernd provoziert. Dadurch ist jetzt unfreiwillig eine Art Biografie entstanden, nicht die des Romanschreibers, aber die des provozierten Zeitgenossen.
Sind zeitgebundene Anlässe nicht eigentlich das Gegenteil von dem, was der Titel „Ewig aktuell“ verspricht?
Als ich diese Texte wiedergelesen hatte, dachte ich, das könnte zeitgeschichtlich interessant sein. Dass ein Schriftsteller auf dem Marienplatz in München gegen den Vietnam-Krieg redet, das kann man sich doch heute gar nicht mehr vorstellen.
Man könnte auch davor zurückschrecken, mit der Vergangenheit eigener Anschauungen konfrontiert zu werden. Erkennen Sie sich immer wieder, in dem, was sie waren?
Der schlimmste Text in meinem Buch ist diese Rede in Konstanz über Kapital und Arbeit. Ich hatte keine Ahnung, was Kapital ist und was Arbeit ist, und halte eine Rede in diesem ausgeliehen neomarxistischen Jargon, der keine Zeile lang meine eigene Sprache ist. Wenn ich das heute lese, denke ich: Gott sei Dank habe ich mir sonst kein Vokabular irgendwo ausgeliehen. Auch beim Erscheinen von Blochs „Prinzip Hoffnung“ im Westen schreibe ich mit Marx- und Engelszungen, aber das war eben mein Gefühl damals, das habe ich versucht, auszudrücken. Dafür kann ich geradestehen.
Sind derjenige, der 1967 Deutschland auf dem Weg in den Einparteienstaat sieht, der sich 1972 für die Wählbarkeit der DKP verkämpft und der 2009 die große Koalition unter Angela Merkel lobt, ein und dieselbe Person?
Wer weiß das schon. Aber das damalige Gefühl kann ich noch mobilisieren. So herzlich zustimmungsfreudig, wie ich gegenüber Angela Merkel heute bin, war ich gegenüber jener früheren großen Koalition unter Kiesinger nicht. Nach meinem politischen Beobachter-Sachverstand, den ich mir angeeignet oder auch nur eingebildet hatte, schien das auf eine ewige Regierung hinauszulaufen.