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Fußball-Bundestrainer Löw über die WM in Südafrika, die Misere in Stuttgart und berufliche Ziele.

Frankfurt - 90 Minuten Joachim Löw. So lange, wie ein Fußballspiel dauert, resümierte der Bundestrainer in der Bibliothek des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) in Frankfurt über das WM-Jahr 2010: "Wenn ich an die Emotionen denke, die wir in Deutschland ausgelöst haben, bekomme ich bis heute eine Gänsehaut."

Herr Löw, Hand aufs Herz, freuen Sie sich auf das Wüsten-Abenteuer 2022 in Katar?

Was ich dann mache, kann ich jetzt beim besten Willen nicht sagen. Ungeachtet dessen fand ich die Entscheidung sehr mutig.

Inwiefern?

Eine WM lebt von der Atmosphäre, vom Leben um die Stadien herum. In dieser Hinsicht gibt es in Katar nichts. Keine Fußballkultur, keine Tradition, keine Begeisterung.

Dafür gibt es 50 Grad.

Der gesundheitliche Aspekt ist schwerwiegend. Ich frage mich schon, wie das gehen soll. Selbst wenn man dort die Stadien auf 27 Grad herunterkühlt, hat es beim Training zwischen 40 und 50 Grad. Ich weiß nicht, wie belastbar die Spieler sind. Aber ich fürchte, die Qualität der Spiele wird unter der Belastung leiden. So ein schnelles Spiel wie heute ist dann kaum möglich.

Genau das hat die deutsche Elf in Südafrika ausgezeichnet. Sie haben nach dem dritten WM-Platz vom "Qualitätsfußball made in Germany" gesprochen. Was meinen Sie damit?

Wir haben 2010 unter schwierigen Bedingungen hervorragende Leistungen gezeigt. Ich denke da an die Verletzungen von René Adler, Michael Ballack, Simon Rolfes und Heiko Westermann. Trotz dieser Rückschläge haben wir vor allem im spielerischen Bereich größere Fortschritte als in den vergangenen Jahren gemacht.

Woran denken Sie konkret?

Wir haben eine gewisse Basis erreicht und sind übers ganze Jahr in keinem Spiel unter diesem Niveau geblieben. Schnelle Balleroberung, schnelles Umschalten, schnelle Ballkontaktzeiten, das war ein Markenzeichen unserer Mannschaft bei der WM.

"Unsere Ballkontaktzeiten waren auf dem höchsten Niveau"

 Sie haben die WM statistisch aufgearbeitet. Wo steht die deutsche Elf international?

Es gibt da mehrere Faktoren. Wir haben von allen WM-Mannschaften die wenigsten Fouls begangen, das heißt, wir hatten die meisten Ballgewinne bei Zweikämpfen. Wir sind nach Ballgewinnen am schnellsten zum Abschluss gekommen. Und unsere Ballkontaktzeiten waren auf dem höchsten Niveau.

In Zahlen?

2005 lagen im Schnitt 2,8 Sekunden zwischen Ballannahme und -abspiel. Damals war unser Spiel langsam und in die Breite angelegt. 2008 waren es 1,8 Sekunden, diesmal 1,1 Sekunden. In unseren Spielen gegen England und Argentinien lag der Wert bei 0,9. Die Spanier lagen bei 1,0 im Schnitt.

Sorry, Herr Löw, trotzdem hat es im Halbfinale gegen Spanien wie schon im EM-Finale 2008 wieder nicht zum Sieg gereicht.

Weil wir da unser Spiel in der Offensive nicht so durchgesetzt haben wie zuvor. Man muss den Gegner treffen, wenn er unorganisiert ist. Am besten bringt man die Spanier durch Tempospiel in Verlegenheit. Das haben wir versäumt.

Wie sehr grämt sie die Niederlage?

Schauen Sie, der FC Barcelona hat neulich Real Madrid mit 5:0 geschlagen. Das war ein Spiel nahe an der Perfektion, besser geht es kaum. Viele Barça-Spieler stellen das Gerüst der spanischen Nationalelf. Und die Real-Profis bringen auch viel Qualität ein.

In Umfragen verbinden 96 Prozent der Deutschen die Mannschaft mit Begeisterung.

 Ja, genau so wichtig ist noch ein anderer Wert. 87 Prozent der Bevölkerung sagen, die Nationalmannschaft schafft Integration.

Thilo Sarrazin hat im Sommer die große Integrationsdebatte angestoßen.

Bei uns spielt keiner aufgrund seiner Herkunft. Entscheidend ist für mich die Qualität der Spieler. Das ist vielleicht die höchste Form der Integration. Es spielt für mich keine Rolle, woher ein Spieler stammt, sondern, wie gut er ist.

"Von Arne Friedrich hatte sicher niemand diese Leistung erwartet"

  Haben Sie einen Nationalspieler des Jahres?

(Überlegt) Wenn ich mich auf einen Namen festlege, wäre das ungerecht den anderen gegenüber. Einige Spieler haben ihre Aufgaben klasse erfüllt, obwohl sie nicht permanent gespielt haben. Natürlich sind Mesut Özil, Thomas Müller und Sami Khedira zu Shootingstars geworden, Bastian Schweinsteiger ist in seiner Persönlichkeitsentwicklung zum Weltstar gereift, Philipp Lahm hatte zuvor schon ein Topniveau. Von Arne Friedrich hatte sicher niemand diese Leistung erwartet.

Dafür hat Per Mertesacker nicht so überzeugt.

Man wirft ihm gerne Fehler im Spielaufbau vor. Bei der WM sind von seinen vertikalen Pässen nach vorn aber 93 Prozent bei den Mitspielern angekommen. Das war die Topquote aller Abwehrspieler bei der WM 2010.

Im Erfolg, sagt man, macht man die größten Fehler. Worauf achten Sie 2011 besonders?

Ziel ist es, unsere Spielstärke zu optimieren. Wir spielen bewusst gegen starke Gegner wie Italien, Uruguay, Brasilien und die Niederlande. Daran müssen wir uns messen.

Und über allem steht Spanien?

Spanien bleibt der Maßstab für mich. Ich bin überzeugt: Wir können sie schlagen.

Inwieweit spielt Michael Ballack in Ihren Planungen eine Rolle?

Das ist schwer zu beantworten. Er wird mit Nachdruck daran arbeiten, wieder für die Nationalelf zu spielen. Wenn er der Mannschaft Impulse geben kann, freuen wir uns.

Weil Sie sich wünschen, dass ein verdienter Spieler wie er einen guten Abgang bekommt?

Darum geht es nicht. Die Frage lautet: Ist er in der Lage, bei der EM 2012 Akzente zu setzen? Ich traue ihm das zu. Andererseits gibt es andere Spieler, die sich in seiner Abwesenheit weiterentwickelt haben.

Sie haben mit Ihrer Vertragsverlängerung nach der WM gezögert - warum?

Ich musste mir klar werden: Habe ich die Begeisterung, Energie und Kraft wie vor der WM? Hätte ich das nicht mit Ja beantwortet, hätte ich die Konsequenzen gezogen.

"Mit seiner Wucht und Dynamik ist Khedira sehr wertvoll für uns"

 Und die Euphorie der Fans?

Die hat mich sicher auch beeinflusst. Während der WM habe ich das nur gefiltert mitbekommen. Erst hinterher wurde mir bewusst, was wir in Deutschland ausgelöst haben. Wenn ich an diese Emotionen denke, bekomme ich bis heute eine Gänsehaut.

Die VfB-Fans machen sich große Sorgen um ihren Verein. Sie als ehemaliger Roter auch?

Man muss die Situation jetzt schon sehr sorgfältig analysieren. Aber da sind andere näher dran als ich.

Mit Sami Khedira und Jens Lehmann sind zwei Führungspersönlichkeiten gegangen. Erklärt das für Sie die Krise?

Natürlich ist es ohne die beiden nicht einfacher geworden. Aber ein Verein wie der VfB sollte mit seiner Substanz in der Lage sein, solche Abgänge zu verkraften.

Dass Lehmann mit 40 Jahren aufhört, war nicht die ganz große Überraschung?

Der Zeitpunkt musste kommen, das wusste man.

Hatten Sie erwartet, dass Sami Khedira auf Anhieb bei Real Madrid Stammspieler würde?

Bei ihm konnte man immer erkennen, dass er ein Weltklassespieler werden kann, wenn er von Verletzungen verschont bleibt. Er ist physisch sehr stark und hat sich schon in ganz jungen Jahren zu einer Führungsfigur entwickelt. Am ausgeprägtesten hat sich das beim WM-Titelgewinn der U 21 in Schweden gezeigt, wo er Kapitän war - und natürlich bei der WM in Südafrika. Mit seiner Wucht und Dynamik ist er sehr wertvoll für uns. Real Madrid ist für ihn die beste Herausforderung.

"Serdar Tasci hat mehr Möglichkeiten, als er zuletzt gezeigt hat"

 Zurück zum VfB: Auch Khedira ist nicht unersetzlich, oder?

Früher hat der VfB immer Spieler aus den eigenen Reihen hervorgebracht. Ich nenne nur Mario Gomez, der quasi zum Nulltarif kam und dann für 30 Millionen zum FC Bayern ging. Aber wo genau die Probleme beim VfB liegen, kann ich aus der Ferne nicht beurteilen. Aber die Mansnchaft ist besser als ihr Tabellenstand.

Wie stark beeinträchtigt die VfB-Misere die Chancen und Perspektiven der Stuttgarter Nationalspieler?

Cacau sehe ich als sehr wichtigen Spieler für uns an, weil er nicht nur Tore erzielt, sondern ein Spiel sofort belebt, wenn er reinkommt. Christian Träsch ist vielseitig einsetzbar. Er wäre bei der WM dabei gewesen, wenn er sich nicht verletzt hätte. Serdar Tasci hat mehr Möglichkeiten, als er zuletzt gezeigt hat. Bei ihm ist derzeit ein Stillstand eingetreten. Er muss sich steigern. Ich hoffe, dass er sein Potenzial wieder besser ausschöpft als in den vergangenen Monaten.

2004 haben Sie beim DFB angefangen. Wie haben Sie sich seither als Trainer entwickelt?

In den ersten beiden Jahren war ich als Co-Trainer mitverantwortlich für die fußballerische Entwicklung der Nationalelf. Seither habe ich gelernt, mehr zu delegieren. Im Gegenzug musste ich mehr Visionen entwickeln. Ich muss das Gesamte sehen, immer gleich die nächsten zwei bis vier Jahre planen und durchdenken.

Ihre Anfänge als Trainer des VfB Stuttgart...

...Diese Grundidee von attraktivem Fußball hatte ich schon immer. Beim VfB hatte ich nur noch nicht das Können, schwierige Situationen zu lösen. Ich musste erst lernen, mit den Spielern richtig umzugehen, um sie von meinen Vorstellungen zu überzeugen. Beim DFB habe ich den Fußball mehr aus der Vogelperspektive gesehen. Deshalb war mein Wechsel zum DFB der größte Schritt in meiner Entwicklung als Trainer.