Die Polizei stellt eine Zunahme von häuslicher Gewalt in Corona-Zeiten fest. Foto: dpa/Julian Stratenschulte

Die Psychologin Tatjana Etzel-Fuchs warnt im Gespräch, dass in Corona-Zeiten Gewalt in Familien steigt, Regeln nicht verbindlich und vor allem einheitlich in allen Ländern gelten und mangelnder Hoffnung.

Stuttgart - Tatjana Etzel-Fuchs schaut mit anderem Blick auf die Corona-Krise: dem der Psychologin und Kriminologin. Auch mit den Augen einer früheren Polizeihauptkommissarin, die über viele Jahre Alltag, Sorgen und Nöte der Menschen kennengelernt hat, Heute bietet sie als Psychotherapeutin in Niederstotzingen bei Günzburg Hilfe in ihrer Praxis an.

Frau Etzel-Fuchs, was macht das Leben mit dem Corona-Virus so schwierig?

Das Schwierige für den Umgang mit dieser Situation ist, dass es für jeden von uns was vollkommen Neues ist. Wir können nicht auf alte Muster zurückgreifen, auf frühere Bewältigungsstrategien. Es ist eine neue Erfahrung. Vielleicht können wir noch auf das Wissen unserer Großeltern zurückgreifen, die im Krieg ähnliches erlebt haben. Aber die meisten von uns haben keine Erfahrung damit, wie sie diese Extremsituation bewältigen können.

Was heißt das konkret?

Viele Menschen denken jetzt darüber nach, wie sie ihren Alltag in dieser Situation bewältigen sollen und können. Dazu brauchen wir neue Strategien. Die entwickeln wir gerade und fragen uns: Was haben wir eigentlich erlebt, was haben wir in den Medien gelesen und gesehen, was sagen uns Politiker und Verantwortliche? Und letztendlich wissen wir nicht genau, ob, wo und was verzerrt wird. Denn auch die, die uns erklären, was gerade passiert, haben eine solche Situation ja auch noch nicht erlebt.

Und das führt zu Hamsterkäufen und Schlägereien um Klopapier?

Nehmen Sie das einmal als Beispiel: Ich kann nicht beurteilen, ob das alles wirklich so gewesen ist. Tatsache ist, dass die Medien über leere Klopapier-Regale in den Geschäften geschrieben haben. Die ersten Darstellungen über Schlägereien haben Unsicherheit ausgelöst. Und die Menschen haben gekauft und gekauft. Natürlich ist das auch eine witzige Anekdote, wenn sich Menschen um Toilettenpapier schlügen. Vielleicht ist diese Überhöhung eines kleinen Problems aber auch genau der Humor, den wir in Deutschland und Europa jetzt brauchen, um auch mit der Krise umzugehen.

Humor gegen Corona?

Ja natürlich. Humor und Lachen sind wunderbare Ventile, ohne dabei die Ernsthaftigkeit der Lage zu bagatellisieren. Denn machen wir uns doch bitte bewusst: Wer jetzt in dieser Situation falsche Steilvorlagen wie Geschichten über Toilettenpapier verbreitet, was wird der dann machen, wenn wir wirklich vor schlimmen Situationen wie einer Triage stehen? In der also Ärzte entscheiden müssen, wer leben darf und wer nicht. Wenn wir uns wirklich vor Augen führen müssen, dass Entscheidungen zu treffen sind, die unter normalen Lebensumständen unerträglich sind und die die Grundrechte aushebeln.

Mir erscheint das wie ein Widerspruch …

Alles, was wir gerade machen, ist eine Ansammlung scheinbarer Widersprüche: Wir vermitteln Sicherheit und greifen gleichzeitig zu gravierenden Maßnahmen, die Unsicherheit erzeugen. Wir wollen Risikopatienten schützen. Besonders Eltern und Großeltern nach allem, was wir im Moment wissen. Aber auch junge Menschen, Krebskranke, Asthmatiker, Diabetiker. Und gleichzeitig müssen wir von denen, die wir schützen müssen, weiten Abstand halten. Können sie nicht umarmen, streicheln. Begegnen uns mit Mundschutz und Handschuhen. Das nehmen wir als Widerspruch wahr. Das ist alles andere als die soziale Nähe und unsere persönliche Freiheit, die wir beide gewohnt sind und zum Leben in unserem Kulturkreis brauchen. Das schürt Ängste.

Angst ist kein guter Berater in Situationen, die extrem sind.

Ich befürchte deshalb auch, dass das nicht mehr lange so gut geht. Es häufen sich die Meldungen über den Anstieg häuslicher Gewalt.

Sie sind auch Kriminologin. Was so eine Entwicklung nicht absehbar?

Das war absehbar: Wenn Menschen so lange so eng aufeinander auf kleinem Raum leben. Wir erleben, dass die Polizei jetzt in Gegenden mit häuslicher Gewalt zu tun hat, wo das vorher eher kein Thema, kein Brennpunkt, war.

Was empfehlen Sie?

Wir müssen Formen entwickeln, in denen wir wieder mit Menschen außerhalb der jetzt gewohnten, kleinen Gemeinschaften reden – mit allem gebotenen Schutz natürlich. Schwätzchen mit Nachbarn, Menschen in den Gemeinden, Vereinen und Kirchen. Es gibt Menschen, die werden durch die aktuelle Isolierung traurig und stürzen in tiefe Depressionen. Auf Dauer halten wir Isolierung nicht durch. In meiner Praxis habe ich jetzt deutlich mehr mit solcher Angst zu tun. Auch bei Menschen, die vorher nicht über Angstgefühle klagten.

Wir brauchen also eine verlässliche Exitstrategie?

Ich bin weder Virologin noch Wirtschaftsökonomin, die wohl diese Entscheidung für einen möglichen Exit besser beurteilen können. Gerade in Bezug auf die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen eines Exits. Jedoch aus meiner Perspektive einer Psychologin und Kriminologin habe ich andere Befürchtungen, wenn wir keine verlässliche Exitstrategie vorgestellt bekommen: Es entstehen Ängste, teilweise auch irrationale Ängste, unter Menschen, weil es keine klaren, verbindliche und einheitliche Regeln in Deutschland gibt. Jedes Bundesland macht irgendetwas anderes. Das irritiert.

Welche Ängste meinen Sie damit?

Nehmen wir das Beispiel Mundschutz: dort wo keine Tragepflicht besteht, werden diejenigen etwas fremdartig beäugt, die einen Mundschutz tragen – es könnten ja die Infizierte sein oder jemand, der ein großes Risiko in sich trägt. Das bedroht das Sicherheitsgefühl. Ich plädiere daher unbedingt für eine Mundschutz-Tragepflicht, damit das „Ungetüm“ Mund-Nase-Schutz nicht mehr als fremdartig und etwas Krankes für andere identifiziert wird, sondern als eine wichtige Gesunderhaltungsstrategie, die uns einen Exit schneller und leichter ermöglichen könnte. Dies kann Ängste mindern, weil Transparenz und Einheitlichkeit im gemeinsamen Verbund vollzogen würde. Verlässlich wäre hier also ein einheitliches Vorgehen in ganz Deutschland mit einem einheitlichen Konsens in unserer Politik.

Wir brauchen also eine Exit-Strategie?

Das ist eine ganz, ganz schwierige Frage. Ich bin da auch ambivalent gestrickt. Am Anfang, als es hieß, dass wir dieses Kontaktverbot bekommen, war ich selbst sehr dafür. Ich wollte unseren Sohn schon gar nicht mehr in die Schule lassen. Und deshalb war ich erleichtert, als das Kontaktverbot kam …

… aber das macht die Menschen reizbar und verunsichert sie …

…zunächst vermittelte das Sicherheit, in der um unsere Gesundheit gesorgt wird, aber im weiteren Verlauf, je mehr Zeit vergeht, stelle ich mir auch die Fragen: Wie sicher sind wir überhaupt? Und wie weit geht unser Bemühen um Sicherheit? Was können wir wirklich mit unseren Opfern erreichen? Ich habe das Gefühl, dass Politik im Moment nur die Dinge transportiert, die wir ohnehin schon wissen. Aber nichts, was uns einen Horizont erkennen lässt, eine Vorstellung von dem, was noch kommt und wie vor allem, wie es endet.

Warum ist Hoffnung so wichtig?

Lassen Sie mich das zuspitzen: Bildlich gesprochen sitzen wir im Gefängnis. Das ist ein Gefühl, mit dem die meisten von uns weder vertraut sind noch umgehen können. Häftlinge aber müssen wissen, wie lange sie im Gefängnis sind, damit sie Hoffnung entwickeln und die Isolation von der Gesellschaft überstehen können.

Sie sind für einen Tag Politiker, was würden Sie tun?

Wir müssen eine Vorstellung davon haben, wann und wie wir wieder unsere vollen Grundrechte zurückbekommen, die uns das Grundgesetz garantiert. Das ist jetzt entscheidend! Politik ist jetzt besonders in diesem Punkt gefordert: Ab wann öffnen wir wieder die Türen? Wann machen wir unserer Vernunft das Angebot, aus der vergangenen Zeit zu lernen? Für unseren eigenen und den Schutz der Gemeinschaft aus Überzeugung Verantwortung zu übernehmen?