Kampf gegen Schleuser: Peter Holzem, Präsident der Bundespolizeidirektion Stuttgart Foto: Leif Piechowski

Als Präsident der Bundespolizeidirektion Stuttgart hat Peter Holzem die Landesgrenzen im Blick. Dabei fällt ihm auf: Die irreguläre Migration, also die Einreise von Flüchtlingen ohne gültige Aufenthaltspapiere, nimmt rasant zu.

Als Präsident der Bundespolizeidirektion Stuttgart hat Peter Holzem die Landesgrenzen im Blick. Dabei fällt ihm auf: Die irreguläre Migration, also die Einreise von Flüchtlingen ohne gültige Aufenthaltspapiere, nimmt rasant zu.
 
Stuttgart - Herr Holzem, können Sie in die Zukunft schauen?
Ich wünschte es mir, aber ich kann’s nicht.
In gewisser Weise können Sie’s schon. Es heißt, die Bundespolizei sei in der Lage, durch ihre Frühwarnsysteme zu erkennen, wie sich Flüchtlingsströme entwickeln.
Die Bundespolizei hat in Europa ein weites Netzwerk von Verbindungsbeamten. Dadurch erhalten wir Informationen über Migrationsentwicklungen um uns herum und haben ein Gespür dafür, was auf uns zukommt. Zum Beispiel beobachten wir intensiv die Lage im Mittelmeerraum – dort verläuft eine der Hauptroute der illegalen Migration. Kommen auf der italienischen Insel Lampedusa Flüchtlinge an, wissen wir, dass ein Teil von ihnen in absehbarer Zeit in Baden-Württemberg eintreffen wird. So gesehen, können wir tatsächlich etwas voraussehen und uns polizeilich darauf einstellen.
Das wollte die Europäische Union doch verhindern. Abkommen wie Schengen oder Dublin III sollten sicherstellen, dass Asylanträge im Ankunftsland bearbeitet werden . . .
Die Staaten im Schengen-Verbund sind verpflichtet, Asylanträge entgegenzunehmen und Entscheidungen darüber herbeizuführen. Das tun sie auch. Eine andere Frage ist es, ob die Flüchtlinge nach einer Ablehnung in ihre Herkunftsländer zurückgehen oder in einem anderen europäischen Land einen neuen Versuch unternehmen. Das sind dann teils diejenigen, die wir bei uns feststellen.
In welchem Maße ist Deutschland Zielland von Flüchtlingen?
Deutschland war in den vergangenen Jahren eher ein Transitland, weil die Migranten andere Ziele hatten: Nordeuropa, Frankreich, Spanien. Inzwischen sind wir Zielland Nummer eins. Wir beobachten aktuell einen enormen Anstieg von Fällen irregulärer Migration. In den ersten 19 Mai-Tagen haben wir im Zuständigkeitsbereich der Bundespolizeidirektion Stuttgart 656 Fälle registriert – mehr als im gesamten ersten Quartal des vergangenen Jahres. Das ist ein enormer Anstieg. Bereits 2013 hatten wir eine Zunahme von 70 Prozent gegenüber 2012. Sie sehen: Die Zahlen schießen nach oben.
Was sind die Gründe?
Die Gründe liegen auf der Hand: Die gute wirtschaftliche Situation in Deutschland trägt dazu bei. Die sich zuspitzende Situation in Krisenregionen wie Syrien ist sicherlich ein weiterer Grund. Außerdem sorgt die Bundespolizei in Deutschland dafür, dass die aufgegriffenen Flüchtlinge rasch in Erstaufnahmeeinrichtungen kommen.
Welche Rolle spielen finanzielle Leistungen in Deutschland – etwa das vom Bundesverfassungsgericht korrigierte Asylbewerberleistungsgesetz? In der Folge wurde das Taschengeld für Flüchtlinge deutlich erhöht – von 41 auf 140 Euro monatlich, ohne Sachleistungen.
Sicher spielt es eine Rolle, wenn man weiß, dass man menschenwürdig aufgenommen wird. Sich mit den Motiven im Einzelnen auseinanderzusetzen ist aber Aufgabe des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Mit Sicherheit kann man sagen, dass der starke Anstieg in den vergangenen Wochen auch auf die Aktion „Mare Nostrum“ der italienischen Marine zurückführen ist, die Flüchtlinge im Mittelmeer aufgreift. Zudem herrschte zuletzt sehr ruhige See.
Nur wenige abgelehnte Asylbewerber müssen Deutschland verlassen. Ist das auch ein Anreiz?
Jedenfalls kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Möglichkeit, nach einem abgelehnten Asylantrag im Land zu verbleiben, auch ein Motiv darstellt.
Als Bundespolizei bekommen Sie als Erstes mit, wie sich Flüchtlingsströme entwickeln. Was beobachten Sie aktuell?
Wenn sich irgendwo auf der Welt Krisenherde entwickeln, können wir davon ausgehen, dass aus diesem Land mit einem gewissen Zeitverzug Migration entsteht. Nach Baden-Württemberg kommen derzeit vor allem Syrer, gefolgt von Eritreern, Kosovaren, Tunesiern und Afghanen. Wir stellen außerdem fest, dass sehr viele Flüchtlinge über Schleuserorganisationen ins Land gebracht werden. Zum Vergleich: Im ersten Quartal 2013 haben wir vier Schleuser gefasst. Im ersten Quartal dieses Jahres bereits 32.
Was sind das für Organisationen?
Schleuser kommen häufig aus dem Bereich der organisierten Kriminalität. Sie sind skrupellos, perfide und menschenverachtend. Ihnen geht es ausschließlich ums Geld und nicht um das Wohl der Flüchtlinge. Sie nehmen in Kauf, dass diese unter unwürdigen Bedingungen auf den Weg gebracht werden und unter Umständen sogar sterben. Gegen diese Organisationen konzentrieren sich unsere Ermittlungen.
Wie viel Geld bezahlen Flüchtlinge, um nach Deutschland geschleust zu werden?
Das reicht von einigen Hundert bis zu einigen Zehntausend Dollar. Auch die Mafia hat erkannt, dass man mit Schleusungen mehr und einfacher Geld verdienen kann als mit dem Drogenhandel. Das ist ein Riesenmarkt geworden. Einige dieser Organisationen inserieren in Tageszeitungen – etwa in China oder in Tschetschenien – und werben in ihren Anzeigen offensiv für einen Aufenthalt in Europa. Wer sich darauf einlässt, muss einen Teil der Schleusersumme bar bezahlen, den anderen Teil über eine Art Kredit. Die Schleuser versprechen den Leuten, dass sie in Deutschland eine gut bezahlte Arbeit bekommen und dann den Kredit zurückzahlen können. Anschließend landen die Menschen als Illegale auf dem Arbeitsmarkt, wo sie zum Teil mit Dumpinglöhnen zwischen zwei und vier Euro abgespeist werden. Davon sollen sie dann auch noch Kost und Logis bezahlen. Man kann sich leicht vorstellen, dass den Menschen kaum noch Geld bleibt, um den Kredit zurückzubezahlen. Damit ist auch klar, dass sie sich auf Jahre, wenn nicht auf Jahrzehnte hinaus in die Hand von Schleusern begeben. Die Flüchtlinge bleiben so auch in der Illegalität gefangen.
Warum boomt dieses Geschäft gerade jetzt?
Schleuser tauchen immer dort auf, wo aus ihrer Sicht ein Markt ist. Je mehr Krisenherde, je mehr Schleuserorganisationen entstehen.
Was tun Sie gegen die Schleuser?
Diese Leute arbeiten hochflexibel; sie wechseln häufig die Methoden. Wenn wir gezielt in Zügen tätig werden, kann man davon ausgehen, dass die Schleuser in der nächsten Woche auf Pkw oder Lkw setzen.
Also eine Art Katz-und-Maus-Spiel?
Ja, daran erinnert es. Schleuserorganisationen haben sogar Aufklärungsfahrzeuge, um feststellen, wo und wie wir kontrollieren, um dann sofort auszuweichen oder in Wartestellungen zu gehen. Sie wissen teilweise, wann unsere Schichtwechsel sind, und versuchen, in diese Lücke zu stoßen. Darauf stellen wir uns ein und passen die Strategie ständig an.
Mit welchem Erfolg?
Je professioneller die Schleuser sind, umso größer ist der Ermittlungsaufwand. Erschwerend kommt hinzu, dass die Organisationen oft nicht in Deutschland sitzen. Wir erzielen aber durchaus Erfolge. Im vergangenen Jahr hatten wir einen Schleuserfall, der eine Reihe von Verhaftungen in Deutschland und in der Türkei nach sich zog.
Wie informiert sind die Flüchtlinge über das, was sie in Deutschland erwartet?
Die Informationen laufen über zwei Kanäle – einmal über Verwandte und Bekannte im Zielland; hier wird ein durchaus realistisches Bild von der Situation in Deutschland vermittelt. Zum zweiten über die Schleuserorganisationen. Sie erwecken oft den Eindruck, als handle es sich um eine touristische Reise, und versprechen alles Mögliche – Begrüßungsgeld, Arbeit, selbst Grundstücke. Sie garantieren auch einen zweiten Einreiseversuch, sollte der erste scheitern. Sehr gut informiert sind die Flüchtlinge in der Regel über ihre Rechte und über die Befugnisse der deutschen Polizei. Sie werden von den Schleusern regelrecht gebrieft.
Welche Maßnahmen müsste die Politik ergreifen?
Die Kernaufgabe der Bundespolizei ist es, Migrationsbewegungen im Europa der offenen Grenzen weitgehend kontrollierbar zu halten. Durch unsere Präsenz in Grenznähe stellen wir sicher, dass ein gewisser Kontrolldruck besteht. Die andere wichtige Aufgabe ist es, den Schleuserorganisationen das Handwerk zu legen und die Menschen, die in ihre Fänge geraten, vor Schlimmerem zu bewahren. Die Migrationspolitik selbst zu bewerten steht uns als Behörde nicht zu.
Immer wieder gibt es Vorwürfe, die Bundespolizei würde gezielt nach ethnischen Kriterien kontrollieren. Was entgegen Sie?
Dieser Vorwurf trifft unsere Mitarbeiter ins Mark. Interkulturelle Kompetenz hat bei uns einen hohen Stellenwert sowohl in der Ausbildung als auch in Fortbildungsprogrammen. Zuletzt haben wir uns dem Thema auf unserer Führungskräftetagung in Nufringen gewidmet. Wir beschäftigen viele Polizisten mit Migrationshintergrund und sind dabei, weitere zu gewinnen. Als Bundespolizei haben wir den gesetzlichen Auftrag, unerlaubte Migration zu bekämpfen. Das tun wir nach rechtsstaatlichen Grundsätzen. Uns Rassismus zu unterstellen, weil wir unserer Aufgabe nachkommen, ist in hohem Maße ungerechtfertigt. Das wird der Arbeit der Bundespolizeidirektion Stuttgart in keiner Weise gerecht. Wir sind eindeutig nicht rassistisch.
Der neue Co-Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, hat im Interview mit unserer Zeitung mehr Spitzenämter für Migranten gefordert – auch in der Polizei. Wie sieht es bei Ihnen aus?
Auf Präsidentenebene gibt es noch keine Führungskräfte mit Migrationshintergrund, innerhalb des Höheren Dienstes schon. Es könnten aber mehr sein.
Zurück zum Ausgangspunkt: Welche Empfindungen haben Sie, wenn Sie die Flüchtlingsbilder aus Lampedusa oder Nordafrika sehen?
Das lässt niemanden kalt – auch mich nicht. Wenn eine Familie mit kleinen Kindern anreist, die uns schildert, wie schlimm es ihnen ergangen ist, macht das jede Polizistin und jeden Polizisten betroffen. Gleichzeitig müssen sie ihrem Auftrag nachgehen – erkennungsdienstliche Maßnahmen einleiten und Asylanträge entgegennehmen. Wir bemühen uns, dies so menschenwürdig wie möglich zu gestalten. Wir beschaffen notfalls Feldbetten, kümmern uns um Lebensmittel und Getränke. Den Kollegen schlägt große Dankbarkeit entgegen.