Die Bewohner des Wichernhauses haben ein Leben geführt, das sich in ihren Gesichtern ablesen lässt. Foto: Rüdiger Ott

Heike Schmid-Mühlig ist seit 25 Jahren in ihrem Berufsfeld tätig: Sozialamt, Wohnungslosenhilfe, Psychiatrie oder gesetzliche Betreuungen. Erlebt hat sie einiges in ihrer Karriere. Seit 2004 ist die Sozialpädagogin nun im Sozialen Dienst des Wichernhauses in Kaltental tätig.

S-Süd/ Kaltental -

Heike Schmid-Mühlig ist seit 25 Jahren in ihrem Berufsfeld tätig: Sozialamt, Wohnungslosenhilfe, Psychiatrie oder gesetzliche Betreuungen. Erlebt hat sie einiges in ihrer Karriere. Seit 2004 ist die Sozialpädagogin nun im Sozialen Dienst des Wichernhauses tätig.
Frau Schmid-Mühlig, die Menschen im Wichernhaus sehen nicht unbedingt wie jedermann aus. Wer lebt hier?
Menschen, die aus schwierigen sozialen Situationen heraus pflegebedürftig geworden sind und in ihren bisherigen Wohnverhältnissen nicht weiter versorgt werden können. Die meisten sind suchtkrank. Unser Konzept ist auch genau auf solche Menschen ausgerichtet. Außerdem sind die Bewohner meist obdachlos oder von Obdachlosigkeit bedroht gewesen. Die Mehrheit leidet zudem unter einer psychischen Erkrankung.
Sie haben gerade ein Konzept angesprochen. In der Broschüre zum Wichernhaus liest man von dem „etwas anderen Pflegeheim“.
Das ist genau dieser Ansatz über die Sucht. Wir wollen für die Menschen eine Unterkunft sein, an dem sie so akzeptiert werden, wie sie sind, auch mit ihrer Suchterkrankung und den gescheiterten Versuchen, aus der Sucht heraus zu finden.
Wie entstand dieses Konzept?
Es war dringend notwendig, eine Einrichtung für Menschen zu schaffen, die aufgrund ihres Alters oder gesundheitlicher Einschränkung und sozialer Schwierigkeiten keine Chance auf Arbeitsplatz oder Wohnraum hatten. Die Abteilung „Dienste für Ältere“ der Evangelischen Gesellschaft (eva) hat sich dieses Problems angenommen.
Wie waren die Reaktionen der Bürger in Kaltental?
Es gab zunächst Ablehnung. Man hatte wohl auf ein Pflegeheim für Kaltentaler Bürger gehofft. Ängste sind aufgetaucht; das ist wohl üblich, wenn es um Menschen am Rande der Gesellschaft geht. Die haben sich aber zum Glück im Laufe der vergangenen Jahre völlig relativiert. Kritische Blicke gibt es nur noch selten von Menschen, die neu in Kaltental wohnen.
Was, denken Sie, sollten die Menschen in Kaltental über das Wichernhaus wissen?
Wer Zweifel oder Ängste hat, soll gerne vorbeikommen oder anrufen. Außerdem sind wir bemüht, selbst an die Öffentlichkeit zu treten. Wir kooperieren immer wieder mit dem Kindergarten oder der Kirchengemeinde und sind immer gesprächsbereit.
Ist das Wichernhaus das einzige Pflegeheim dieser Art?
Vor ein paar Jahren wäre meine Antwort definitiv „ja“ gewesen, inzwischen nicht mehr. Einige Träger haben nachgezogen, auch innerhalb normaler Pflegeheime gibt es inzwischen Stationen, die sich darauf spezialisiert haben.
Wie wirkt sich dieses Konzept auf den Alltag des Pflegepersonals aus?
Unsere Mitarbeiter müssen eine gewisse Einstellung mitbringen. Mit unangepassten Verhaltensweisen und Ablehnung sollte man umgehen können. Viel Zeit muss für Motivation aufgebracht werden. Auch die Auswirkungen der Sucht bekommen die Mitarbeiter zu spüren: Verwahrlosung oder veränderte Persönlichkeitsstrukturen.
Was sind die Grundvoraussetzungen für die Mitarbeiter?
Wer einen guten Draht zu unseren Bewohnern hat, der hat auf jeden Fall schon mal die halbe Miete. Außerdem sind Humor, Geduld und ein dickes Fell von Bedeutung.
Macht Sie die Arbeit manchmal betroffen?
Eine gewisse Betroffenheit ist von Zeit zu Zeit immer wieder vorhanden. Die führt aber nicht zu Ohnmacht oder Handlungsunfähigkeit. Ich habe inzwischen fast 25 Jahre Erfahrung in dem Beruf und kann mich an keinen Tag erinnern, an dem ich morgens dachte: Oh Gott, jetzt muss ich wieder da hin. Ich muss ja niemanden retten, sondern möchte die Menschen begleiten. Das ist mir zum Glück die meiste Zeit gelungen.
Hat Sie die Arbeit nach 25 Jahren abgehärtet?
Abgehärtet wäre ein falscher Begriff. Gelassener bin ich auf jeden Fall.
Woran machen Sie das fest?
Wenn ich als junge Frau noch versucht habe, den Einzelnen zu retten, kann ich jetzt akzeptieren, dass manches ist, wie es ist und auch darin noch Gutes sehen: Einen Zustand zu erhalten und eine Verschlimmerung zu verhindern.
Und das dann auch als Erfolg anzusehen?
Ja.
Wie sieht der Alltag der Bewohner aus?
Es gibt einen Wochenplan, an dem alle Bewohner teilnehmen können: Gymnastische Übungen, Gedächtnistraining, Ausflüge und es gibt geregelte Essenszeiten, zu denen man sich über den Tag trifft. Wir versuchen, die Bewohner also durch einen strukturierten Alltag zu begleiten.
Sind Alkohol und Tabak hier erlaubt?
Grundsätzlich gilt, wir sind ein „nasses“ Haus. Ein Suchtkranker, der also nicht abstinent leben möchte, darf hier Alkohol und Tabak konsumieren.
Werden Grenzen gesetzt?
Das Geld ist die größte Hürde. Jeder Bewohner bekommt ein festes monatliches Taschengeld. Davon kann sich der einzelne auf den Monat gesehen maximal zwei Flaschen Bier am Tag und Zigaretten leisten.
Mehr nicht?
Bewohner, die hier torkelnd durch die Gänge stolpern, oder große Trinkgelage habe ich in all den Jahren nie gesehen. Ich glaube, dass hier auch nicht mehr getrunken wird als in etlichen anderen Einrichtungen für Ältere; nur gehen wir hier eben offen damit um. Alkoholismus wird bei uns nicht tabuisiert; das ist der große Unterschied. Es geht schließlich um einen würdevollen, letzten Lebensabschnitt, auch um Lebensqualität. Alkohol-Gegner sagen da: „Das kann gar keine Lebensqualität sein“. Wenn aber jemand über all die Jahre mit dieser Droge gelebt hat und es nicht gelungen ist, davon loszukommen, dann stelle ich mir die Frage: Ist es nicht Lebensqualität, ein gewisses Maß an Alkohol konsumieren zu dürfen und dann den Kopf frei zu haben für andere Dinge?

Konzept
Im Wichernhaus leben Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen waren. Die Betreuung Alkoholerkrankter steht ebenso im Mittelpunkt. Alkohol und Tabak sind im Wichernhaus nicht verboten.

Bewohner
Derzeit leben 67 Bewohner im Alter zwischen 46 und 81 Jahren im Wichernhaus und bleiben dort meist bis zu ihrem Tod. Das Durchschnittsalter liegt bei 63 und ist somit geringer als in anderen Pflegeheimen.

Aufnahme
Die Bewohner werden von anderen Einrichtungen oder Kliniken an das Wichernhaus vermittelt.

Mitarbeiter
35 Pflegefachkräfte, Pflegehelfer, Alltagsbetreuer, sowie Mitarbeiter in Hauswirtschaft, Technik, Sozialdienst und Verwaltung arbeiten zur Zeit im Wichernhaus. Dazu kommen noch einige ehrenamtliche Helfer, die die Bewohner mit persönlichen Hilfestellungen unterstützen.