In der Mevlana-Moschee beten regelmäßig rund 90 Muslime. Foto: Horst Rudel

Sechs Konfessionen haben sich in Nürtingen auf ein gemeinsames Grundlagenpapier geeinigt, das die Leitplanken für das gedeihliche Zusammenleben in der Stadt festlegt.

Nürtingen - In Nürtingen haben sich sechs Religionsgemeinschaften auf ein Grundlagenpapier zum interreligiösen Dialog verständigt. In einem rund drei Jahre dauernden Prozess haben die Beteiligten Gemeinsamkeiten ausgelotet, aber auch Widersprüche benannt. Den Anstoß zu dem Dialog hatte der Nürtinger Oberbürgermeister Otmar Heirich gegeben, der auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise die in der Stadt ausgeübten Religionen mit ins Boot nehmen wollte.

„Es war ein kritischer Dialog“, fasst der Nürtinger Dekan Michael Waldmann die rund ein Dutzend seitdem geführten Gesprächsrunden zusammen. Vor allem das Selbstverständnis der Mevlana-Moschee sei dabei immer wieder auf den Prüfstand gestellt worden. Dass auch die Vertreter der Muslime das Grundlagenpapier, in dem ein deutliches Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland gefordert wird, unterzeichnet haben, ist für Waldmann ein Zeichen für den Willen, „bei uns anzukommen“.

Kritik an der Rolle der Mevlana-Moschee

Nach Einschätzung des Dekans war das nicht immer so. Seien die Mevlana-Vertreter früher mit kritischen Fragen zu rechtsnationalen Tendenzen, Demokratiefeindlichkeit, Antisemitismus oder der Stellung der Frau konfrontiert worden, dann hätten sie das Gespräch einfach abgebrochen. „Jetzt aber sind sie geblieben und haben sich unseren Fragen gestellt“, sagt Waldmann. Es sei gut möglich, dass die Muslime die Gleichberechtigung von Mann und Frau noch anders lebten, aber „das gibt es in unserer Gesellschaft auch noch“, so Waldmann.

Dass die in der Mevlana-Moschee betenden Muslime „fest auf dem Boden des Grundgesetzes“ stehen würden, wie Waldmann beteuert, ist für die Kritiker des Dialogs ein reines Lippenbekenntnis. Sie verweisen auf den jüngsten Bericht des baden-württembergischen Verfassungsschutzes. Der hat ein kritisches Auge auf die Islamische Gemeinschaft Millî Görüs (IGMG) geworfen, unter deren organisatorischem Dach die Gläubigen in der Moschee in der Nürtinger Tiefenbachtalstraße beten.

„Von einer glaubhaften Abkehr von den ursprünglichen Zielen der Millî-Görüs-Bewegung – und damit auch von den Abgrenzungstendenzen gegenüber der westlichen Gesellschaft und ihren Werten – ist deshalb nach wie vor nicht auszugehen“, steht in der aktuellen Fassung des Berichts für das Jahr 2017. Millî Görüs – übersetzt: Nationale Sicht – wolle eine „gerechte Ordnung“ auf der Grundlage des Islams begründen, die langfristig alle anderen, als „nichtig“ erachteten politischen Systeme ablösen solle. Diese gemeinsame Zielsetzung eine alle Institutionen, die sich auf Millî Görüs berufen.

Dekan sieht Bewegun

Auch die Nürtinger Mevlana-Moschee? Nein, sagt der Nürtinger Dekan. „Da ist ein Prozess im Gange. Millî Görüs will sich von der Türkei lösen und sich auf das Religiöse konzentrieren“, sagt Waldmann und beruft sich damit seinerseits auf die Einschätzung, zu der der aktuelle Verfassungsschutzbericht des Bundes kommt. Dass in Nürtingen nicht nur die Vertreter der Mevlana-Moschee, sondern auch die der konkurrierenden Alevitischen Gemeinde das gemeinsame Papier unterzeichnet hätten, zeige die Ernsthaftigkeit, mit der beide Seiten an einem Dialog interessiert seien.

„Wir sind jetzt im Gespräch miteinander. Das ist eine große Chance“, sagt der Kirchenmann. Das Nürtinger Grundlagenpapier solle kein Endpunkt sein, sondern ein Doppelpunkt. „Es steht außer Frage, dass wir auf dem Weg weitergehen“, sagt Waldmann. In weiteren Schritten soll der bisher nur auf Führungsebene geführte Dialog auf die Gemeindeebenen heruntergebrochen werden. Um den Prozess fortzuführen, seien zwei bis drei gemeinsame Treffen pro Jahr geplant.

„Wir werden die Partner vor Ort einbinden. Das kann so aussehen, dass die Muslime auch einmal in die Stadtkirche kommen und unsere Gemeinde die Mevlana-Moschee kennenlernt“, sagt Waldmann. Möglicherweise würden die ersten Weichen für die interreligiöse Begegnung der Basis schon beim nächsten gemeinsamen Treffen im Januar gestellt. Zudem, so Waldmann, stünden Dialog und Grundlagenpapier auch für andere, noch nicht beteiligte Religionsgemeinschaften offen. In der Mevlana-Moschee beten regelmäßig rund 90 Muslime.

Das Grundlagenpapier im Wortlaut

Wir sind miteinander auf dem Weg und im offenen Dialog des Kennenlernens und der Vertrauensbildung. Wir freuen uns an Gemeinsamkeiten und halten Unterschiede in gegenseitiger Achtsamkeit und gegenseitigem Respekt aus. Aus unserem religiösen Selbstverständnis heraus treten wir für ein friedliches Zusammenleben aller Menschen ein und lehnen jede Form von Gewalt in Worten und Taten ab.

Wir bekennen uns zur freiheitlich-demokratischen Verfassungsordnung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere zu den Grundrechten, wie sie in den Artikeln 1-7 des Grundgesetzes garantiert sind. Dabei ist uns besonders wichtig, dass jeder Mensch sein religiöses Bekenntnis frei wählen und ungestört ausüben kann, insofern nicht die verfassungsmäßigen Rechte anderer verletzt werden. In respektvollem Umgang miteinander treten wir für Frieden und Gerechtigkeit ein.

Uns verbindet der Glaube an einen allmächtigen, barmherzigen und ewigen Gott, der uns nahe ist und doch alle unsere menschlichen Vorstellungen übersteigt. Alle wissen wir uns von Gottes Barmherzigkeit getragen und der Liebe zu Gott und den Menschen verpflichtet. Gemeinsam ist uns der Auftrag, die von Gott geschaffene Welt nach Gottes Willen zu gestalten und dabei Verantwortung für unser gesellschaftliches Umfeld zu übernehmen.ZIel des DialogsIn unseren wertschätzenden Begegnungen wollen wir Brücken bauen und mögliche Vorurteile abbauen. Wir sind bereit, Kontakt zu halten, um das Verständnis und den Dialog der Religionen in Nürtingen untereinander und mit allen Bürgern zu fördern und zu pflegen.

Die Unterzeichner

Unterzeichnet worden ist die Vereinbarung von der Alevitische Gemeinde Nürtingen, der Evangelische Gesamtkirchengemeinde Nürtingen, der Evangelisch-methodistische Kirche, Bezirk Nürtingen, der Katholische Kirchengemeinde St. Johannes Evangelist Nürtingen, der Neuapostolische Kirche, Kirchengemeinde Nürtingen, und dem Verein der Islamischen Gemeinschaft in Nürtingen und Umgebung, Mevlanamoschee.