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Insbesondere bei Kindern machen sich Pädagogen und Eltern Sorgen, dass bei zu hoher Mediennutzung deren Gehirn leidet. Doch Apps und Internet-Links können die Denkleistung sogar ankurbeln – wenn sie sinnvoll eingesetzt werden.

Tübingen - Bei der elektronischen Bibliothek Wikipedia sind alle Informationen in Sekundenschnelle abrufbar. Im Auto lotst das Navigationsgerät den Fahrer sicher ans Ziel. Und die Telefonnummer vom Zahnarzt halten Suchmaschinen wie Google oder Yahoo parat: Vieles, was der Mensch wissen muss, ist heute im Internet gespeichert und nicht mehr im Gehirn.

So mancher Kritiker glaubt, dass die gestiegene Mediennutzung dem selbstständigen Denken schade: So warnte der Psychologe Manfred Spitzer im Herbst 2012 vor der sogenannten digitalen Demenz. In seinem gleichnamigen Buch behauptet der Direktor der psychiatrischen Klinik in Ulm, dass die neuen Medien die Menschen dumm machen und ihre Gehirn schrumpfen ließen.

Ob am Ende tatsächlich die Technik über den gesunden Menschenverstand siegt, das fragt sich auch Stephan Schwan vom Leibniz-Institut in Tübingen. Und kann beruhigen: „Dafür fehlen eindeutige wissenschaftliche Belege, denn die dazu notwendigen Langzeitstudien gibt es bislang noch nicht“, sagt der Leiter der Arbeitsgruppe Wissenserwerb mit Cybermedia. Tatsächlich hat die Forschung erst 2008 ernsthaft begonnen, sich intensiver mit der Thema der kognitiven Folgen durch das Internet und der neuen Mediennutzung zu beschäftigen. Weshalb es noch zu früh sein, um vor den Gefahren zu warnen, die auf den Menschen lauern, wenn er ständig das Internet nutzt.

Mehr Möglichkeiten mit Apps

Einige Studien können sogar kleinere positive Effekte nachweisen – zumindest wenn es darum geht, einzelne Fähigkeiten zu fördern. So fand die Schweizer Wissenschaftlerin Daphne Bavelier heraus, dass vermeintliche Dummmacher wie Computer-Killerspiele sogar leistungssteigernde Elemente besitzen. Trainiert wird unter anderem das Reaktionsvermögen und die visuelle Aufmerksamkeit. Wer häufig spielt, kann also verschiedene Sinneseindrücke besonders schnell verarbeiten und blitzschnelle Entscheidungen treffen – ohne dass die Geschwindigkeit zulasten der Genauigkeit geht. Dies zeigte sich jedoch nur bei Actionspielen und nicht bei Strategiespielen.

Warum also die Vorteile des Internets nur in der Freizeit nutzen? Der Medienexperte Peter Gerjets vom Tübinger Leibniz-Institut hat untersucht, wie sich neue Medien auch im Schulalltag einbringen lassen, beispielsweise in naturwissenschaftlichen Fächern.

So bieten Apps für Tablet-Computer mehr Möglichkeiten als ein übliches Biobuch: Per Fingerwisch lassen sich damit beispielsweise Bilder vergrößern und so mehr Details von Grafiken erfassen. Auch komplizierte Zusammenhänge wie beispielsweise die physikalischen Voraussetzungen für den Vogelflug lassen sich einfacher über Filme oder Animationen erkennen.

Aufmerksamkeit geht abhanden

In einem Experiment von Mai bis Juni 2012 untersuchten die Tübinger Medienexperten unter der Leitung von Gerjets, ob es sich besser per App lernen lässt: 200 Grundschüler – die eine Hälfte hochbegabt, die andere von durchschnittlicher Intelligenz – mussten Aufgaben anhand eines Tablet-Computers lösen oder das Biobuch zu Hilfe nehmen. „Bei der App konnten die Kinder zwar viel mehr entdecken, sie mussten die Inhalte aber sich selbst zusammensuchen“, sagt Jessica Kornmann, die als Psychologin das Experiment begleitete. Dagegen waren die Inhalte in dem Buch Seite für Seite geordnet. Das Ergebnis: Mit Apps erzielten die hochbegabten Viertklässler bessere Lernleistungen als mit einer konventionellen Buchvariante zum Durchblättern. Die Grundschüler normaler Intelligenz kamen mit dem Buch besser zurecht. „Neue Medien können also von Vorteil sein“, sagt Kornmann. Aber es ist wichtig zu beobachten, wem sie wirklich mehr nützen.

Denn es gibt natürlich auch negative Effekte: Nicht die Intelligenz geht den Menschen durch die Nutzung neuer Medien abhanden, sondern die Aufmerksamkeit. „Die häufigen Wechsel gehen auf Kosten des geistigen Arbeitsspeichers. Sie fressen die Konzentration“, sagt Gerjets.

Etwa sieben Informationen kann dieser Bereich des Gehirns gleichzeitig aufnehmen. Er ist für die bewusste Verarbeitung von Eindrücken und für ihre Speicherung ins Langzeitgedächtnis zuständig: Was dort landet, gilt als gelernt. Werden es mehr Informationen, kommt es zur Überbelastung. Das Gehirn kann kaum noch zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen unterscheiden. Das kann vor allem dann passieren, wenn im Netz überall Bilder, Links und Werbebanner blinken.

Erst Kopf, dann Rechner anschalten

Daher raten die Tübinger Wissenschaftler zum überlegten Surfen: Erst den eigenen Kopf einschalten, dann den Rechner. Es gilt zu überdenken, was man eigentlich mit Hilfe der neuen Medien herausfinden möchte: Wie soll die Suche aussehen? Welche Wörter bieten sich zur Suche an? Und in welchen Quellen könnten seriöse Informationen zu diesem Thema stehen?

Insgesamt erhöhe sich mit dieser Vorgehensweise die „digitale Kompetenz“, so die Medien-Experten. „Bei den digitalen Medien braucht es ein erhebliches Maß an Selbstdisziplin”, sagt Gerjets. Das gelte ebenso für E-Mails und SMS. Wer in der Nachrichtenflut nicht untergehen möchte, sollte sich daher feste Termine zum Abrufen der Mails setzen. Tatsächlich ist dies aber keine neue Erkenntnis. Denn: „Gute Lesestrategien brauchte man schon immer“, sagt Stephan Schwan. Jede Bibliothek bietet ein schier unüberschaubares Wissen. Aktives und reflektiertes Suchen, Bewerten und Verstehen heißen die Königswege. Sie sorgen für Wissenszuwachs – ganz egal ob beim Computer oder beim Buch