Wächst eine „Generation Porno“ heran? Foto: Bennicce/Fotolia

Soll man Jugendlichen grundsätzlich verbieten, Sex-Seiten im Internet anzuschauen? Lässt sich das überhaupt regulieren? Sexualwissenschaftler Jakob Pastötter über den Konsum von Internet-Pornografie und die Folgen.

Stuttgart - Herr Professor Pastötter, wir wollen über ein heikles Thema reden: Jugendsexualität und Internetpornografie . . . .

Ein Thema, das mir außerordentlich wichtig ist.
Wie den meisten Eltern, Lehrern, Jugendtherapeuten und Sozialarbeitern.
Mir ist es egal, was Erwachsene mit der Pornografie machen. Aber das Kinder damit sozialisiert werden, ist verheerend. Dass einige sexualwissenschaftliche Kollegen in Deutschland dieses Problem verharmlosen, lässt mich vermuten, dass sie nie mit pornographisierten Kindern zu tun hatten.
Trifft das Ihrer Meinung nach nur für Deutschland zu?
Das ist länderspezifisch. In Großbritannien und den USA ist man viel kritischer. In Deutschland haben wir – mit den Gewalt-Videospielen ist es genauso – die Vorstellung: Kinder wissen ganz genau, was ihnen gut tut und sie können alle Einflüsse auf ihr Leben selbst bestimmen. Das stimmt einfach nicht.
Spielen Sie auf die Studie des Hamburger Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie an, die von 2009 und 2011 erhoben wurde und in der es um das Thema „Jugendsexualität im Internetzeitalter“ geht?
Ja, unter anderem. Befragungen sind aber immer nur so gut wie die Fragen, die man stellt beziehungsweise überhaupt stellen kann.
Warum sprechen Sie in diesem Zusammenhang von „Verharmlosung“?
Kinder können, egal, um welche Medien es sich handelt – Pornografie, Nachrichten oder Cartoons – nicht zwischen Realität und medialer Fantasie unterscheiden. Jugendliche in der Erwartung zu befragen – wie in der Hamburger Studie geschehen –, dass sie sagen: „Klar wirkt das auf mich“, so was ist einfach nur naiv.
Inwiefern naiv?
Ein solcher Zugang unterschätzt vollkommen die Komplexität der Wirkung von Pornografie. Das ist keine Sache, die man im Verstand ein für allemal klären kann. Das wäre genauso, wie wenn ein 15-Jähriger sagen würde: Ab heute befriedige ich mich nicht mehr selber. Ich nehme mir das mal vor, und dann ist das auch so. So funktioniert Sexualität nun mal nicht.
Warum sollten Forscher nicht Jugendliche nach ihren sexuellen Erfahrungen befragen und daraus wissenschaftliche Schlüsse ziehen?
Seit zehn Jahren erhebe ich die Forderung: Macht keine Befragung von Kindern und Jugendlichen, sondern derjenigen, die mit ihnen zu tun haben – Eltern, Lehrer, Therapeuten. Die können Antworten geben und sagen wie Internetpornografie auf Kinder und Jugendliche wirkt. Erst danach kann man Heranwachsende interviewen. Dabei kommen ganz andere Ergebnisse raus.
Was raten Sie Eltern, die ihren pubertierenden Sohn beim Anschauen von Pornografie vor dem Computer überraschen?
Wir lernen Sexualität nicht nur übers Zuschauen. Sexualität ist mehr als das, was ich sehe und mehr als die Lust, die ich dabei empfinde. Sex hat mindestens drei verschiedene Ebenen.
Die da wären?
Erstens: die körperliche Ebene. Diese lässt sich wissenschaftlich gut untersuchen. Irgendetwas führt zur Erregung und zum Orgasmus. Schwieriger wird es, wenn es dann zweitens darum geht, die Lust zu beschreiben. Wie ist das Verhältnis zwischen den im Kopf mehr oder weniger willentlich aktivierten oder über Pornografie von außen zugeführten Fantasien und dem vegetativem Nervensystem sowie der Ausschüttung von Hormonen? Wir wissen ja nicht einmal, wie und weshalb Sex-Bilder überhaupt Erregung verursachen oder weshalb manche Bilder erst Abscheu und dann über den Angst-Lust-Mechanismus das Verlangen nach mehr auslösen.
Und die dritte Ebene?
Das sexuelle Begehren ist in der Regel auf eine bestimmte Person gerichtet. Die meisten Menschen möchten weder nur eine Körper-Sexualität noch eine reine Lust-Sexualität, sondern Sexualität mit einem bestimmten Partner empfinden.
Das muss gelernt sein.
Und genau deshalb ist die Pubertät so unglaublich anstrengend. Jugendliche empfinden zwar Lust, aber sie haben nicht das psychologische und emotionale Handwerkzeug, um wirklich mit einem Partner in Beziehung zu treten. Das müssen sie erst lernen – und manche lernen es trotz ihres Wunsches nie.
Schauen Jugendliche Sex-Filme an, um zu „lernen“?
Solche Filme haben mit der Realität nicht das Geringste zu tun. Im Vergleich zum ständigen Klicken von Reiz zu Reiz sind echte Beziehungen, was den visuellen Aspekt angeht, eher arm an Reizen.
Das müssen Sie erklären.
Anders als in pornografischen Filmen laufen wir nicht ständig nackt durch die Gegend und kopulieren. Pornografie ist, obwohl sie so plump wirkt, etwas Stilisiertes. Dagegen ist die Realität der Sexualität nur zu einem kleinen Teil visuell bestimmt. Wenn ich jemanden erregend finde, dann spielen andere Sinne eine viel größere Rolle als das Optische.
Ein Beispiel.
Wenn ich jemanden küsse,spüre ich den Anderen, ich rieche ihn intensiv, aber ich sehe ihn nicht, weil ich meine Augen geschlossen habe. In der Pornografie wird alles reduziert auf das Visuelle und vor allem auf den Genitalbereich.
Was löst die Betrachtung von Pornografie bei Heranwachsenden aus?
Explizite Pornografie gehört nicht in die Hände von Kindern und Jugendlichen, weil sie eine Stimulanz wie Alkohol, Nikotin oder Drogen darstellt, die sie überhaupt nicht verarbeiten können. Verbote sind zwar immer ein zweischneidiges Schwert, weil sie bestimmte Dinge erst richtig interessant machen. Andererseits werden dadurch Grenzen aufgezeigt.

Kinder und Jugendliche müssen diese Grenzen aber auch akzeptieren.

Was sie mit diesen Grenzen und den Verboten machen, ist notgedrungen ihre Sache. Aber ein Laissez-faire hilft nicht weiter, weil es sich um eine Selbstkonditionierung und Jagd nach immer neuen visuellen Reizen handelt.
Viele Eltern tun sich schwer, mit ihren Kindern offen über Sex zu reden. Wie kann man die Gesprächsatmosphäre entkrampfen?
Sie können zum Beispiel sagen: „Ich weiß, dass eure Generation einen anderen Umgang mit Medien hat als wir ihn hatten. Aber visuelle Medien machen was mit dir und können dir ein Sexualverhalten beibringen, das für eine intime Beziehung Hürden aufwirft, weil es dann um zwei reale Menschen geht.“
Sollte man anstatt zu reden lieber den Stecker ziehen und den Computer wegschließen?
Verbote reichen nicht. Das ist spätestens seit der Umgehung von Filtersoftware durch Smartphones klar. Die Eltern müssen Stellung beziehen. Etwa so: „Hör mal, es liegt an dir, wie du damit umgehst, aber Lust und Befriedigung haben etwas mit ‚Lernen‘ zu tun. Bei Pornografie füllt man sich mit Bildern ab, die man später in einer Beziehung oft kaum mehr wegbekommt. Ich werde jetzt aber nicht alle zwei Stunden in dein Zimmer kommen, um dich zu kontrollieren.“ Soviel Vertrauen zwischen Eltern und Kindern muss sein.
Ob mit oder ohne Vertrauen – heimlich geguckt wird trotzdem.
Natürlich ,es ist j auch völlig normal, dass Pubertierende Lust empfinden. Zu glauben, dass es reichen würde zu sagen: „Du darfst das und das nicht“, ist illusorisch, wenn Eltern und Erwachsene nicht eine Beziehung vorleben, in der Liebe wirklich gelebt wird. Jugendliche müssen lernen, Achtsamkeit für sich und andere zu entwickeln, und nicht alles willkürlich in sich hineinzustopfen.
Da verlangen Sie sehr viel.
Sexualität zu erlernen setzt eine gewisse Erfahrung und ein gewisses Alter voraus. Deshalb empfinde ich es auch als problematisch, wenn die ersten sexuellen Erfahrungen und die erste Kontakte mit Pornografie heutzutage immer früher gemacht werden.
Sollte der Online-Jugendschutz strenger sein?
Ich plädiere dafür.
Schaut der Gesetzgeber weg?
Nein. Das Problem ist ein anderes. Was wir brauchen, sind internationale Regelungen und die sind in weiter Ferne. Die meisten Anbieter von Internet-Pornografie haben ihre Server auf irgendwelchen Südseeinseln.
Angesichts der Umsätze wird sich das Geschäft mit Internet-Sex kaum verbieten lassen.
Vor wenigen Jahren gab es bei einem führenden Internet-Portal rund 100 000 Sex-Clips und Filmszenen. Heute hat dasselbe Portal 6,27 Millionen Clips von zehn Sekunden bis hin zu 90-Minuten-Filmen. Alle zehn Minuten werden weitere hochgeladen.
Sie sind Jahrgang 1965. Als sie in der Pubertät waren, gab es noch kein Internet.
Sex anschauen war zu meiner Zeit relativ selten und harmlos. Heute sind die Stimuli brachial.
Früher gab es auch nur das schmuddelige Sex-Kino am Bahnhof. Da war der Jugendschutz kein Problem, weil nur rein kam, wer 18 Jahre alt war.
Es wäre schon von großem Vorteil, den Konsum beispielsweise durch Filtersoftware zu reduzieren. Aber da stehen die Interessen der Smartphone-Branche an möglichst großer Bandbreite dagegen.
Führt der Konsum von Internet-Pornografie zu sexueller Verrohung?
Eher zu sexuellem Analphabetismus. Das Problem ist, dass viele, die das konsumieren einen starken Zwang entwickeln. Das heißt: Sie lernen, dass sexuelle Befriedigung umsonst zu haben ist und die „gebratenen Tauben“ einem wie im Schlaraffenland in den Schoß fallen. Viele sind dann nicht mehr in der Lage, den langen und mühsamen Weg zu einer echten Beziehung zu gehen. Wir wollen die intime Beziehung jetzt und gleich haben. Das gilt auch für Jugendliche.
Also lieber längere, intensivere Freundschaften und weniger Sex im Jugendalter?
Es kommt auf die richtige Dosierung an. Wenn ich ständig die Möglichkeit habe, andere Partner zu haben und nach immer neuen sexuellen Stimuli suche, wird mir der eigene Partner schnell langweilig. Dabei ist Sex, der nur auf Lust aus ist, total flach.

Zur Person: Jakob Pastötter

1965 geboren in Augsburg

1989-1997 Studium der Kulturanthropologie, Geschichte und Linguistik an der Universität Regensburg

1997-2000 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kinsey Institute for Research in Sex, Gender and Reproduction der Indiana University und am Institute for Advanced Study of Human Sexuality in San Francisco

Ab 2000 Studium der Erziehungswissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin

2003 Promotion, danach Professuren in den USA und Großbritannien.

Seit 2006 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualwissenschaft (DGSS)

Seit 2010 leitet er auch das DGSS-Institut für Lebens- und Sexualberatung