Postermotiv des Internationalen Solo-Tanz-Theater-Festivals in Stuttgart Foto: VHS/Festival

Erst stellt das Solo-Tanz-Theater-Festival Stuttgart auf Livestream um – dann wird es doch noch ganz abgeblasen: Für viele Künstler eine Riesen-Enttäuschung. Im November soll es einen Neustart geben.

Stuttgart - Im Wechselbad der Gefühle: Anfang vergangener Woche dachten die Veranstalter noch, das renommierte alljährliche Internationale Solo-Tanz-Theater-Festival in Stuttgart retten zu können, indem man das Publikum aussperrt und nur per Livestreaming dabei sein lässt. Freitagabend war auch mit dieser Notlösung Schluss: Das Festival wurde abgebrochen und soll im November komplett wiederholt werden, dann hoffentlich auch wieder öffentlich. Doch der Reihe nach.

Livestreaming zu Hause statt Festivalatmosphäre im Robert-Bosch-Saal – wie soll das gehen? Keine gespannte Vorfreude, kein gemeinsamer Applaus, kein direkter Austausch über die einzelnen Performances, kein Kontakt zu den Künstlern? Der Gedanke ist fremd. Also Laptop einschalten, die Homepage der VHS aufrufen, Livestream in Aktion setzen. Was ist zu sehen? Künstler im Robert-Bosch-Saal vor leeren Stuhlreihen beim Warm-up, die Moderatorin Sonia Santiago-Brückner (einst Erste Solistin beim Stuttgarter Ballett) mit letzten Anweisungen, dann ihre mehrsprachige Begrüßung der Zuschauer zu Hause. Die Kamera schwenkt um, die Jury nimmt in gebührlichem Abstand voneinander Platz.

Die Künstler bringen auch Politik und Philosophie

„Home (what we lost)“ ist die erste der 18 Premieren, die beim Festival zu sehen sind. Kahl geschoren, in einem puristischen Kleid, entwickelt der Tänzer und Choreograf Sebastian Abarbanell eine Reise zu sich selbst. Sein ruhiges Schreiten wechselt zu ausufernden Bewegungen, die eher meditative Musik zu Maschinenlärm. Nackt endet die Performance mit Berührungen des eigenen Körpers – der Künstler ist bei sich selbst angekommen. Heftiger Beifall mit anerkennenden Pfiffen von der Konserve ersetzt den Beifall des Publikums.

270 Bewerber aus 48 Ländern hatten sich für das 24. Internationale Solo-Tanz-Theater-Festival beworben. „Gerade der Tanz als nonverbale, universale Kunstform inspiriert Menschen und bringt sie zusammen“, sagt Marcelo Santos. Die jungen Künstler brächten Politisches, Philosophisches, Existenzielles auf die Bühne, so der künstlerische Leiter des Festivals.

Eine Tänzerin musste am Flughafen München umkehren

Nahezu alle Wettbewerbsteilnehmer des Festivals kommen aus der freien Szene. „Sie sind global vernetzt – an einem Festival teilzunehmen bedeutet für sie auch künstlerischer Austausch, die Chance, neue Kontakte zu knüpfen“, sagt Gudrun Hähnel, die Festivalchefin. Und natürlich habe es Tränen am Telefon gegeben, als einige Teilnehmer noch ganz kurz vor Beginn des Festivals absagen mussten, so die Festivalleiterin. „Fix und fertig“ sei zum Beispiel Ashley Menestrina aus den USA gewesen. „Sie stand schon am Flughafen in München, als die USA ihren Einreisestopp für Menschen aus Europa bekannt gaben. Sie kehrte zur Sicherheit sofort wieder um“, so Gudrun Hähnel.

Alina Belyagina aus Sotschi in Russland hatte etwas mehr Glück. Ihre Premiere „Firebot/Firebird“ im Robert-Bosch-Saal fand zwar auch ohne Publikum statt, und die 1989 geborene Russin empfand das auch als „komisch“. Doch in Russland seien die Menschen viel mehr in sozialen Netzwerken unterwegs. „Alle Freunde und die Familie haben sich mein Solo im Livestream angeschaut“, sagt die global tourende Künstlerin.

Auch Israel bleibt der Russin vorerst verschlossen

Im von ihr choreografierten und getanzten Solo „Firebot/Firebird“ setzt sich Belyagina mit der Weiblichkeit in der zeitgenössischen Medien- und Unterhaltungslandschaft auseinander. Im futuristischen Outfit zu Sounds des israelischen Musikers Eldar Baruch stellt sie mit expressionistischen Bewegungen die Frage, ob ein Cyborg überhaupt ein Geschlecht haben muss. „Mir hat die Abwesenheit des Publikums nicht so viel ausgemacht, ich fand es sogar cool. Ich geh ja auch thematisch gern in die Isolation, ich mag es, eigentlich unrealistische Situationen zu entwickeln“, bekennt die 1989 geborene Russin.

Nun hat die Realität ihre Fiktionen übertroffen. Wie es bei ihr künstlerisch weitergeht, steht aber auch in den Sternen. Belyagina arbeitet regelmäßig in München und Tel Aviv, choreografiert für freie Gruppen der Tanzszene, baut selbst Teams auf. Ihr Visum für Deutschland gilt diesmal bis Mai. Ob sie dann noch in Russland einreisen kann, ist ungewiss. Israel bleibt für sie zunächst ganz verschlossen. „Vielleicht muss ich jetzt ganz viel lesen und Origami machen“, lacht die sympathische Russin.

Das alljährlich stattfindende Internationale Solo-Tanz-Theater-Festival Stuttgart in einem Livestream zu sehen, das war auch bisher schon möglich. Jean Christoph Blavier, ein ehemaliger Tänzer des Stuttgarter Balletts, begleitete stets mit der Kamera die Performances. Doch die völlige Abwesenheit des Publikums war für alle im Treffpunkt Rotebühlplatz Neuland. Am frühen Freitagabend wurde dann auch noch die abschließende Liveshow abgesagt. Das Festival soll nun vom 12. bis 15. November wiederholt werden. Dann hoffentlich mit Publikum und dem Küren der Preisträger.