Das politische Beben am Mittwoch im Erfurter Landtag: AfD-Mann Björn Höcke (rechts) gratuliert dem FDP-Kandidaten Thomas Kemmerich zu seiner Wahl zum Ministerpräsidenten Thüringens. Foto: dpa/Martin Schutt

Das politische Beben nach der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen reicht weit über Deutschland hinaus. Was sagt die internationale Presse dazu, dass ein FDP-Kandidat mit Stimmen der AfD gewählt wurde?

Stuttgart - Die Vorgänge im Erfurter Landtag am Mittwoch haben nicht nur innerhalb Deutschlands Aufsehen erregt. Auch zahlreiche ausländische Zeitungen kommentierten die Wahl des Ministerpräsidenten und ihre Bedeutung für die politische Landschaft in Deutschland. Ein Überblick über einige der Pressestimmen aus dem Ausland.

„La Vanguardia“: „Beispiellose Wendung“

Die spanische Zeitung „La Vanguardia“ sieht in der Wahl des FDP-Kandidaten Thomas Kemmerich mit den Stimmen der AfD-Fraktion eine „beispiellose Wendung“ in der deutschen Politik: „In einer beispiellosen Wendung in der deutschen Politik hat der Landtag von Thüringen am Mittwoch mit Stimmen von Konservativen und Ultrarechten den liberalen Kandidaten Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten gewählt statt den Wahlsieger, Bodo Ramelow von den Linken. Das Geschehene bedeutet einen Tabubruch in der deutschen Politik, in dem bis jetzt alle Parteien des Spektrums einen cordon sanitaire gegen die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) errichtet und jeglichen Pakt mit dieser Formation verweigert hatten“, schreibt die Zeitung.

Bezug zu ganz Europa?

Die französische Regionalzeitung „La Presse de la Manche“ sieht einen Bezug zu ganz Europa: „Es schien unmöglich zu sein, doch es ist gerade passiert. In Deutschland, im Bundesland Thüringen, war es für die Wahl eines liberalen Ministerpräsidenten notwendig, dass die Konservativen der CDU von (Bundeskanzlerin) Angela Merkel und die gewählten Vertreter der extremen Rechten sich den Liberalen anschließen. Der Vorgang erinnert uns nur daran, dass in der Geschichte der Völker nie etwas endgültig gewonnen wurde und dass immer die gleichen Dämonen bereit sind, sich zu zeigen. Die deutschen Rechten sind nun die drittstärkste Partei auf Bundesebene. Das ist eine Tatsache, die sich auch der Krise in ganz Europa annähert“, schrieb „La Presse de la Manche“ am Donnerstag.

NZZ: „Das ist Demokratie!“

Anders als viele Kommentatoren sieht die „Neue Zürcher Zeitung“ hingegen in der Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen mit Stimmen der AfD „keinen Makel“: „Allen, die sich jetzt um die Demokratie sorgen, möchte man sagen: Das ist Demokratie! Was im Erfurter Landtag stattgefunden hat, ist eine freie Wahl, und darüber hinaus hat ein bürgerlicher Kandidat diese Wahl gewonnen. Es gibt keinen plausiblen Grund, das Ergebnis moralisch zu verurteilen. Im Gegenteil, es ist geradezu irritierend, wenn man sieht, wie sich auch bürgerliche Politiker von der Union und der FDP genieren und sich öffentlich von ihren Thüringer Kollegen distanzieren. Anders läge der Fall, wenn Kemmerich nun mit dem Thüringer AfD-Chef eine Regierung anstreben würde. Aber er hat sich von Björn Höcke und dessen Partei eindeutig und unmissverständlich distanziert. Er peilt in Thüringen eine Minderheitsregierung mit der CDU an. Dass er sich von der AfD wählen ließ, um seine politischen Ziele zu verfolgen, ist kein Makel. (...) Eine andere Frage ist, ob die Wahl taktisch klug war. Kemmerichs Vorgänger, Bodo Ramelow, ist in Thüringen äußerst beliebt. Eine Mehrheit der Bürger hätte ihn weiterhin gern als Ministerpräsident gesehen. Ob sie die Überrumpelung durch FDP, CDU und AfD goutieren werden, ist fraglich.“

„Der Standard“: Kemmerich „null Komma null vorbereitet“

„Der Standard“ aus Österreich bemängelt, wie schlecht Kemmerich vorbereitet gewesen sei: „Was am Mittwoch im Thüringer Landtag passiert ist, hätte sich kein Drehbuchautor schlechter ausdenken können. Um den Linken Bodo Ramelow als Ministerpräsidenten einer rot-rot-grünen Minderheitsregierung zu verhindern, ließen sich CDU und FDP von der AfD zu einem Schäferstündchen verführen, das nun für Schockwellen bis Berlin sorgt. (...) Und Kemmerich war so null Komma null vorbereitet, dass es fast wehtut. So geht man nicht mit einem hohen öffentlichen Amt und mit politischer Verantwortung um.“

„Guardian“: Bündnis mit AfD wäre schrecklicher Schritt

Zur politischen Lage in Deutschland meint der Londoner „Guardian“ am Montag: „Die traditionellen Machtzentren, die 2018 eine große Koalition gebildet haben, um das Land zu regieren, sind zerstritten und mutlos. In beiden Parteien hat eine Abfolge von Rückschlägen bei Landtagswahlen zu Rufen nach einer radikaleren und besser unterscheidbaren Politik geführt. (...) Derweil unternimmt die CDU, die in Thüringen von der rechtsnationalistischen AfD geschlagen wurde, ihre eigene Ursachenforschung. Angela Merkel hat bereits erklärt, bei den Bundestagswahlen 2021 nicht mehr anzutreten. Doch im Vorfeld des diesjährigen CDU-Bundesparteitags, der am Freitag in Leipzig beginnt, ist die Rede von Versuchen, ihre mutmaßliche Nachfolgerin zu blockieren, die unpopuläre CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer. Einige in der Partei treten zudem dafür ein, das Verbot von Bündnissen mit der AfD aufzuheben - ein schrecklicher Schritt, der den Schwerpunkt deutscher Politik erheblich nach rechts verlagern und einen definitiven Bruch mit Merkels liberaler Migrationspolitik bedeuten würde.“