Die chinesischen Sicherheitsbehörden statten ihre Beamten mit digitalen Brillen aus, die Gesichter erkennen können. Foto: AFP

In China sind Polizisten mit smarter Videotechnik ausgerüstet. Sie sollen bei der Verbrechensbekämpfung helfen. Doch Menschenrechtler kritisieren: China wird so zum totalen Überwachungsstaat.

Peking - Hinter dem misstrauischen Blick eines Polizisten steckt in China künftig nicht nur die Staatsmacht – sondern auch die Macht der künstlichen Intelligenz. Die chinesischen Sicherheitsbehörden statten ihre Beamten mit digitalen Brillen aus, die Gesichter erkennen können. Der Staat verfügt bereits über eine Datenbank mit den Gesichtern von allen 1,3 Milliarden Erwachsenen im Lande – es herrscht biometrische Ausweispflicht.

Der Staat sieht alles – und weiß alles

China stellt derzeit den Aufbau des totalen Überwachungsstaates fertig. Niemand kann seine Handlungen oder seinen Aufenthaltsort verbergen. Die Behörden haben sich in den vergangenen Jahren Zugriff auf alle Datenspuren in der Digitalwelt verschafft. Jetzt stopfen sie in der Realität die letzten Schlupflöcher. Die moderne Technik macht den Traum aller Diktatoren wahr: Der Staat sieht alles – und weiß alles.

Zu jedem Bürger sammeln die Behörden auf diese Weise künftig täglich Millionen von Datenpunkten. Die Gesichtserkennungs-Brillen sind da nur eine Anwendung von vielen. Das Ministerium für Öffentliche Sicherheit und seine regionalen Ableger betreiben landesweit 170 Millionen Kameras. In drei Jahren sollen es 400 Millionen sein.

Die Personenerkennung klappt selbst bei schlechter Fotoqualität

Für die Auswertung der Kamerabilder in Peking, der am besten überwachten Stadt des Landes, liefert die Firma Megvii die nötige Software. Ihr Programm „Face++“ dürfte dank starker Nachfrage und der vielen Praxisanwendungen in China schon bald globaler Marktführer bei der Gesichtserkennung sein. Megvii verwendet neuronale Netze, also die gleichen Strukturen wie das menschliche Gehirn, um Gesichter in Menschenmengen präzise zu erkennen. „Notfalls reicht auch ein Handyfoto als Vorlage“, sagt Firmenmitarbeiterin Ai Jiandan. Tatsächlich pickt das Programm Versuchsobjekte auch dann aus Datenquellen heraus, wenn das Kamerabild von miserabler Qualität ist.

Die Software alarmiert die zuständigen Fahnder

Das Unternehmen sitzt in einem Hochhaus im Pekinger Technikviertel Zhongguancun. Zwei Studenten haben es 2011 gegründet. Schnell fanden sich zwei bekannte und zahlungskräftige Kapitalgeber: der Internetgigant Alibaba und die Hardwarefirma Foxconn, die unter anderem das iPhone herstellt. Für Alibaba hat Megvii inzwischen eine Gesichtserkennung für Shopping-Apps entwickelt, für Foxconn einen Roboter, der die menschlichen Handgriffe in der Produktion überflüssig macht. „Unser hochkarätigster Kunde ist jedoch das Amt für öffentliche Sicherheit“, sagt Ai. „Unser Produkt identifiziert laufend Straftäter im Straßenbild.“

Ai zeigt Videos von realen Anwendungen. Die Software erkennt einen Mann, der wegen eines Gewaltverbrechens gesucht wird, schon aus der Ferne – obwohl er eine andere Frisur hat. „Das Programm orientiert sich an Merkmalen, die sich nicht verändern lassen.“ In solchen Fällen alarmiert die Software die zuständigen Fahnder, der Zugriff ist nur eine Frage der Zeit. Schließlich sind die Kameras überall.

An Bahnhöfen patroullieren Roboter mit digitaler Videotechnik

Auch die digitalen Brillen der Polizisten scheinen sich auszuzahlen: Obwohl die erste Generation der Brillen zunächst nur für einen Testlauf im Einsatz war, konnte die Polizei sieben Verdächtige festnehmen – darunter solche, die schon seit Jahren gesucht werden. In 26 Fällen haben sie zudem Reisende überführt, die einen gefälschten Personalausweis vorzeigten. Die Beamten sind dabei eigentlich auch schon weitgehend überflüssig. An Bahnhof Zhengzhou, dem Schauplatz des Brillentests, lief zuvor bereits ein Versuch mit Robotern. Sie rollten auf Streife durch die Wartehalle und haben Gesichter erkannt oder aggressives Verhalten identifiziert. Nur die Festnahme übernahmen die menschlichen Kollegen.

Mit der Gesichtserkennung sollen vor allem vermeintlich gefährliche Bevölkerungsgruppen kontrolliert werden: In den muslimisch dominierten Regionen der Provinz Xinjiang etwa warnt der Computer die Polizei, wenn bestimmte „Zielobjekte“ ein abgestecktes Gebiet verlassen, berichtet die Nachrichtenagentur Bloomberg. Oft sind es wenige Straßenzüge, die diesen Menschen erlaubt sind. Die Organisation Human Rights Watch sieht darin eine schwere Menschenrechtsverletzung.

Der Staat erstellt ein lückenloses Profil aller Bürger

Zwar wird vom Staat beteuert, dies diene alles der Verbrechensbekämpfung. Doch die Wortwahl verschiebt sich zunehmend in Richtung „öffentlicher Sicherheit“ und „Wahrung der Stabilität“. Dahinter verbirgt sich die Unterdrückung von Kritik an der Kommunistischen Partei – oder alles, was deren Führung nicht passt, beispielsweise „unmoralisches Verhalten“. Alle Hemmungen zur Nutzung der Technik für die Überwachung der Bürger seien bereits gefallen, warnt Amnesty International.

Während sich Regimekritiker früher noch mit etwas Glück im Café zusammensetzen konnten, ohne dass der Staatsapparat etwas von ihrer Begegnung mitbekam, schließen Chinas Behörden nun die letzten Überwachungslücken – und gehen einen Schritt weiter: Der Staat erstellt ein lückenloses Profil aller Bürger – über ihre Bewegungen, ihren Konsums, ihres Wohlverhaltens und sogar ihrer Meinungsäußerungen. Und die Bevölkerung spielt mit: Praktisch sämtliche Chinesen bieten dem Staat freiwillig eine Fülle von Informationen an. Es laufen mehr Gespräche in der App Wechat als im realen Leben, sie dient zudem zum Bezahlen, für Taxifahrten und vieles andere. Der Betreiber der Chat-Anwendung ist Tencent, eine Privatfirma, doch auch die Wirtschaft ist vom Staat eingebunden und ermöglicht den Geheimdiensten unbürokratischen Zugriff.

China hatte nie Datenschutzbestimmungen

Das gilt auch für die Datenkrake des Online-Handels, Alibaba. Die Firma arbeitet im großen Stil mit Gesichtserkennung, um Kunden auch in normalen Geschäften aufzuspüren. Ausländische Firmen wie Apple und Microsoft sind in China inzwischen gezwungen,,Kundendaten im Inland zu lagern und dem Staat Zugriff zu gewähren.

Die Einbindung der Privatwirtschaft gilt als selbstverständlich, weil die Gesetze stets maximalen Durchgriff des Staates ermöglichen. Die meisten Chinesen stört das anscheinend nicht besonders. Die Frage nach Sorgen zur Privatsphäre stößt meist auf Unverständnis. China hatte eben nie Datenschutz, ist aber seit knapp 70 Jahren kommunistisch regiert. „Jetzt setzt die Obrigkeit die Möglichkeiten der modernen Technik gebündelt ein, um im Grunde den totalen Polizeistaat zu schaffen“, sagt Chinaexperte William Nee von Amnesty International.