Ekin Deligöz und Burak Özüak versuchen zu motivieren. Foto: Ina Schäfer

Beim Besuch der Grünen-Politikerin Ekin Deligöz in der Steinbeisschule werden herbe Wahrheiten offenbar.

S-Nord - Als Ekin Deligöz in der vierten Klasse war, sollte sie im Deutschunterricht beschreiben, wie man einen Erdbeerkuchen backt. Deligöz hatte keine Ahnung, was ein Erdbeerkuchen war. „Ich hätte beschreiben können, wie man Baklava macht“, sagt sie. Damals war sie gerade mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen, aus Tokat, einer Stadt in der Türkei. Eine Stadt, in der es keine Erdbeeren gab. Neun Jahre alt war sie damals, an den Schulen war man auf Migranten nicht vorbereitet. „Gewöhn dich nicht daran. Du wirst hier sowieso nicht bleiben“, beschreibt sie das Klima in den späten 70er Jahren. Heute hat sie einen deutschen Pass, spricht akzentfrei Deutsch, sitzt zurzeit als stellvertretende Fraktionsvorsitzende für die Grünen im Bundestag und nimmt Einfluss auf die Belange des Landes.

An diesem Montagmorgen sitzt sie im Werkraum im ersten Stock der Steinbeisschule in einem Stuhlkreis. Neben ihr: Burak Özüak, von der Fachberatungsstelle Gewaltprävention der Sozialberatung Stuttgart und der Sozialpädagoge Roland Weiß. Acht Jugendliche sitzen im Halbkreis vor Deligöz. Die Schüler stellen eine besondere Klasse dar. Sie haben allesamt keinen Abschluss, teilweise verschiedene Hauptschulen besucht und einen Migrationshintergrund. Jetzt sind sie hier, in der Steinbeisschule, einem beruflichen Schulzentrum für technische Berufe. Auch ein Technisches Gymnasium und ein Berufskolleg befinden sich unter dem Dach. Die Jugendlichen sollen hier endlich ihren Abschluss schaffen und danach am besten einen Ausbildungsplatz finden. Darum kümmern sich nicht nur Özüak und Weiß, sondern auch die beiden Klassenlehrer Michael Kässer und Konstantin Plewe. Das ist schwer, auch wenn es an diesem Tag auf den ersten Blick gar nicht so erscheinen mag. „Respekt, Ernsthaftigkeit, Fleiß – den Schülern hier mangelt es an den Basics“, sagt Özüak. Heute zeigen sie sich diszipliniert. Vielleicht wollen sie Ekin Deligöz, die aus ähnlichen Verhältnissen kommt und einen steinigen Weg hinter sich gebracht hat, nicht enttäuschen. Vielleicht wirken auch die Konzepte der Steinbeisschule.

„Bin ich eine schlechte Muslimin?“

Als Deligöz von ihrem Werdegang erzählt, lauschen die sieben Jungs und das Mädchen gespannt. Sie haben im Vorfeld ihren Text „In Lackschuhen über Steine“, in dem Deligöz beschreibt, warum sie Freiheiten für türkische Mädchen fordert, gelesen. Sie hinterfragen ihren Text und ihre Aussage, das Kopftuch abzulegen. „Aber das steht doch im Koran“, sagt ein Schüler. „Bin ich eine schlechte Muslimin, nur weil ich kein Kopftuch trage?“, fragt Deligöz und fährt fort: „Ich kämpfe nicht gegen den Islam, sondern für die Rechte der Mädchen. Es gibt Menschen, die benutzen die Religion als Instrument, um die Rechte der Frauen zurückzudrängen. Wie seht ihr das, damit kann man doch nicht leben, oder?“ Die Schüler stimmen zu. „Ich verstehe das schon“, sagt einer. „Es muss ja Gleichberechtigung geben.“ – „Du bist ja ein Frauenversteher“, antwortet Deligöz und grinst. „Ich bin begeistert, dass man den Mund aufmacht für andere, die das nicht können“, sagt ein anderer Schüler.

Später erzählen die Jugendlichen selbst von ihrem Werdegang – von Fehlstunden, Aggressionen im Unterricht, Schwierigkeiten mit Lehrern und Faulheit. „Es liegt nicht an anderen, es liegt an mir“, sagt ein Schüler, „Ich bin seit zwölf Jahren in der Schule, ich habe keine Lust mehr.“ Viel lieber wolle er eine Ausbildung machen, als Einzelhandelskaufmann. „Dafür brauchst du einen Abschluss“, sagt Deligöz.

Die Jugendlichen reflektieren klug über ihre Fehler

Auch die anderen Jugendlichen wissen eigentlich genau, warum sie in dieser Klasse in der Steinbeisschule gelandet sind. Sie reflektieren klug über ihre Vergangenheit und die Fehler, die sie gemacht haben. Viele sind in Deutschland geboren, die Sprache beherrschen sie gut. Teilweise werden sie auch von ihren Eltern unterstützt.

Trotzdem sitzen sie hier. Der Klassenlehrer Michael Kässer, der ebenfalls in der Runde sitzt, sagt: „Ich versuche hier alles, ich bringe Kuchen mit fürs Bruchrechnen, wir gehen zusammen Klettern, doch alles wird ins Lächerliche gezogen. Ihr seid super Jugendliche, ihr habt was in der Birne, warum begreift ihr nicht, dass das eure letzte Chance ist?“

„Ihr braucht Visionen“, hakt Burak Özüak ein. „Jeder von euch weiß, dass es an ihm selbst liegt, jetzt müssen wir das in die Praxis umsetzen.“ Özüak befürchtet, dass er einige der jungen Leute nach einiger Zeit wiedersehen wird. In Stammheim, wo er Häftlinge betreut.