Ingrid Kahlig mit den Arbeiten ihrer Schülerinnen. Die Texte haben für manche der Autorinnen auch eine therapeutische Wirkung. Foto: factum/Simon Granville

Sie hat zahlreiche Preise gewonnen, es sind spannende Texte entstanden. Die interkulturelle Schreibwerkstatt von Ingrid Kahlig geht in das zweite Jahr.

Herrenberg - Ein Mensch ohne Würde ist seltsam, besonders in seiner Heimat. Wenn der Tyrann Dir deine Würde nimmt, wirst Du in einen anderen Land danach suchen. Deutschland ist die Heimat der Würde, in der ich mich befinde.“

Es sind Texte wie diese, die Ingrid Kahlig bewegen weiterzumachen. Weiterzumachen mit der interkulturellen Schreibwerkstatt der Stadt Herrenberg. die mit acht Teilnehmern begann, und die jetzt mit sechs Teilnehmerinnen ins zweite Jahr geht. Viele von ihnen leben schon lange in Deutschland, doch ihre Wurzeln haben sie noch in den Ländern ihrer Eltern. Und ihre Herzen? Sie spüren die Zerrissenheit, oder bestenfalls den Spagat zwischen den Kulturen, der für sie ein wesentliches Moment ist für das Schreiben.

Ein Impuls eröffnet das Schreiben

„Heimat war der Duft der Jasminblüten. Heimat war der Dampf von Großmutters Samowar. Heimat war der Joghurt in der blauen Schüssel aus Ton, den Opa nur für dich besorgt hat“, schreibt beispielsweise Fariba Amin aus Teheran. Bevor sich die Teilnehmerinnen ans Schreiben machen, gibt ihnen Ingrid Kahlig einen Impuls. Das kann ein Zitat eines Schriftstellers sein, das kann ein so genanntes Elfchen sein, ein kleines Gedicht in elf Worten, ohne Reim. Bei den Zitaten ist um diese Jahreszeit der Lyriker Rainer Maria Rilke angesagt mit seinen berühmten Herbstgedichten.

Manchmal genügt aber auch eine Wahrnehmungsübung, um den Schreibfluss in Gang zu setzen, wie etwa: „Beschreibt den Baum, der vor dem Herrenberger Klosterhof steht!“ Die Autorinnen haben ihn beschrieben im wahrsten Sinne des Wortes – sie haben mit blauem Filzstift ihre Verse auf seine Blätter gemalt, und die haben sich die Teilnehmerinnen dann gegenseitig geschenkt.

Dann spricht man über die Texte und geht sie gemeinsam durch. Ingrid Kahlig gibt behutsam Ratschläge, wenn die Worte nicht stimmen. Die 61-jährige Herrenbergerin hat in Tübingen Linguistik, Romanistik und Medienpraxis studiert, ging dann zum Stuttgarter Stadtradio und zum evangelischen Kirchenradio. Dann wurde Kahlig Waldorf-Lehrerin und arbeitete außerdem in der Medienpädagogik. Über die Pädagogik kam sie schließlich in die Flüchtlingshilfe.

Schreiben entsteht in der Spannung zwischen Persönlichkeit und Wirklichkeit

Denn Schreiben ist nicht nur Darstellung von Dingen oder die Poesie der Worte, es ist auch eine Therapie. „Ingrid, wenn ich das aufschreibe, dann fühle ich mich befreit“, sagt eine Teilnehmerin im Kurs. Gutes Schreiben entsteht immer in der Spannung zwischen Persönlichkeit und Wirklichkeit. Egal, ob jemand einfach nach Deutschland eingewandert ist oder eine traumatisierende Flucht erlebt hat. Schreiben abstrahiert den Schmerz und macht ihn leichter.

Eine Teilnehmerin kann wegen der Pandemie ihre Eltern nicht besuchen, obwohl beide schwer krank geworden sind. Also schreibt sie ihnen einen Brief. Der kann dann zur Grundlage einer Kursstunde werden. Ingrid Kahlig könnte dann vorschlagen, eine Kurzgeschichte daraus machen, dann erklärt sie, welche Form eine Kurzgeschichte hat, und wie man den Text für diese Form verändern muss.

Eine Anthologie markierte das Ende der ersten interkulturellen Schreibwerkstatt im vergangenen Jahr. Dass diese Schrift etliche Preise einheimste, darunter den Schreibwettbewerb des Kreisseniorenrates Böblingen, des Seniorenrates Althengstett und der Stiftung mit Herz und Hand aus Pforzheim, wundert die kleine Gruppe immer noch.

Nicht verwunderlich ist es, wenn man die Texte liest und die Sätze auf sich wirken lässt. Sätze wie die von Elena Lenz: „Ich habe eine wunderbare Familie, einen liebevollen deutschen Mann und zwei großartige Töchter, Shana und Luna. Meine Seele aber wandert immer noch.“