Jugendämter befürchten, dass viele Fälle von Gewalt und Missbrauch nicht bekannt werden. Foto: dpa

Der Missbrauchsfall im Raum Staufen hat die Öffentlichkeit und die Behörden aufgeschreckt. Die Jugendämter gehen immer öfter Hinweisen auf eine Gefährdung von Minderjährigen nach. Sie verstärken ihre Beratung und erzieherischen Hilfen.

Region Stuttgart - Die Jugendämter in der Region holen immer mehr Kinder und Jugendliche aus Familien, in denen sie vernachlässigt, geschlagen und sexuell missbraucht worden sind. „Die Menschen um uns herum sind sensibler geworden, schauen genauer hin und melden uns, wenn mit einem Kind oder Jugendlichen etwas nicht stimmt“, berichtet Anneliese Stoll, die stellvertretende Fachbereichsleiterin Jugendarbeit im Waiblinger Landratsamt. „Dramatische Fälle in Deutschland haben Aufmerksamkeit erregt“, sagt sie, und meint auch den Fall eines Neunjährigen aus Staufen im Breisgau.

Kinder können leicht unter Druck gesetzt werden

Der Junge soll von seiner Mutter und deren Partner mehr als zwei Jahre lang missbraucht und im Internet für Sex angeboten worden sein. Nach einem ersten Hinweis der Polizei hatte das Jugendamt das Kind in Obhut genommen, weil dem Freund der Mutter, der bei ihr eingezogen war, der Kontakt mit Minderjährigen verboten war. Näher befragt wurde der Junge offenbar nicht, jedenfalls nicht vor dem Familiengericht. Es schickte das Kind wieder zurück zur Mutter, weil es ihr vertraute. Erst Monate später wurde der Neunjährige wieder aus der Familie genommen.

„Der Knackpunkt ist die Gefahreneinschätzung“, erklärt Lothar Hilger, der Leiter des Kreisjugendamts in Göppingen. Nach Staufen sei man alarmiert. Kürzlich seien bei ihm ein Junge und ein Mädchen in Obhut genommen worden, „die in einer schlechten körperlichen Verfassung waren“. Hilger befürchtet, dass bei sexuellen Missbrauchsfällen vieles nicht bekannt werde. „Kinder können leicht unter Druck gesetzt werden, etwa mit der Drohung, ,wenn du was sagst, passiert dir etwas’“, sagt Hilger. Von ihrem Leid berichteten die Betroffenen, wenn überhaupt, „in geschützten Räumen“. Und auch erst, wenn sie Vertrauen zu ihrem Gegenüber gefasst hätten.

Keine hundertprozentige Sicherheit

Liegen Verdachtsmomente vor, dass das Wohl eines Kindes auf dem Spiel steht, wird in den Jugendämtern in einem größeren Kreis beraten. In Stuttgart gibt es einen Lenkungskreis, in dem alle zehn Beratungszentren der Stadt vertreten sind und die Fälle erörtern. Weil die Arbeit zunimmt, soll am 1. Juli ein neues Beratungszentrum für den Bereich Zuffenhausen/Bad Cannstatt eröffnet werden. „Der Hilfebedarf wächst“, erklärt Barbara Kiefl, die Abteilungsleiterin im Stuttgarter Jugendamt.

Aber: „Es gibt keine hundertprozentige Sicherheit für Kinder“, unterstreicht Kiefl. Der Staufener Fall zeige, dass das Jugendamt nicht immer zufrieden sein dürfe mit einem Gerichtsbeschluss. Im Jahr 2016 kamen in Stuttgart 95 Fälle vor Gericht. Mitunter lege das Jugendamt auch eine Beschwerde gegen eine richterliche Entscheidung ein, sagt Kiefl. Wie oft, werde nicht erfasst. In Staufen hatte es Auflagen gegeben, auch hinsichtlich der Kontrollen, wobei sich Kiefl gefragt hat, „wie man das umsetzen soll. Wir können nicht jeden Tag 24 Stunden lang jemanden in die Familie schicken.“ Um die Situation in einer Familie wirklich einschätzen zu können, machen die Jugendamtsmitarbeiter Besuche immer zu zweit. Werde der Zutritt zur Wohnung verwehrt, hole man die Polizei.

Immer mehr Hinweise

In Stuttgart gibt es für die in Obhut genommenen eine Jugendschutzgruppe. Zudem stehen Pflegefamilien bereit. Auch die Kinderklinik nimmt Schutzbedürftige auf. Im Kreis Ludwigsburg wurde eine zweite Inobhutnahmegruppe eröffnet, wo die Kinder zunächst einmal in Sicherheit gebracht werden können. Auch dort gibt es für diese Fälle zusätzlich Familien.

Wie in anderen Jugendämtern bekommen die Fachkräfte auch im Kreis Ludwigsburg immer mehr Hinweise auf den Tisch. Im Jahr 2016 hat es laut der Jugendamtsleiterin Anja Beckmann 422 so genannte Gefahreneinschätzungen gegeben, im vergangenen Jahr waren es fast 100 mehr.

Kinder leiden am meisten

Die Wohnplätze für eine sofortige Aufnahme der Kinder sind in der Region meist alle belegt. „Jede vierte bis fünfte Inobhutnahme endet damit, dass wir den Konflikt nach ein bis zwei Tagen lösen können und das Kind wieder zurück in die Familie kann“, sagt Anneliese Stoll vom Jugendamt des Rems-Murr-Kreises. „Wir haben im vergangenen Jahr den Kindern durchschnittlich 18 Tage Schutz gewährt“, sagt der Böblinger Sozialdezernent Alfred Schmid. Um die Aufenthaltsdauer in einer Pflegefamilie oder in einer Wohngruppe so kurz wie möglich zu halten, ist auch im Kreis Böblingen zuletzt mehr Erziehungshilfe geleistet worden.

„Tragfähige Beziehungen gibt es immer weniger“, sagt Stoll. Ein Grund dafür sei, dass „viele Familien oft umziehen“, wodurch sich auch das soziale Umfeld oft ändere. Darunter litten die Kinder am meisten, stellt der Göppinger Jugendamtschef Hilger fest. Deren familiäre Situation werde zunehmend schwieriger. Es gebe immer mehr Alleinerziehende, erklärt Hilger, „und dann kommen andere und wechselnde Partner ins Spiel“. Wie im Fall Staufen.

Ist Gefahr im Verzug, schreitet das Jugendamt ein

Kindeswohl
: Die Inobhutnahme ist eine schnelle und unbürokratische Maßnahme zugunsten des Kindes. Meldet sich ein Kind oder Jugendlicher selbst, muss das Jugendamt der Bitte um Schutz nachkommen. Ausschlaggebend ist das subjektive Empfinden der Betroffenen. Selbst wenn Erwachsene zu einem anderen Schluss kommen, ist das Kind vom Jugendamt in Obhut zu nehmen. Erfährt das Jugendamt von einer Gefährdung, ist das Kind in Obhut zu nehmen, wenn es keine andere Hilfemöglichkeit gibt. Fordern die Eltern ihr Kind zurück, muss das Jugendamt die Familienverhältnisse prüfen und versuchen, dem nachzukommen. Falls das Kindeswohl nicht gesichert erscheint, kann das Familiengericht eine Entscheidung über weitere Maßnahmen treffen. Es werden Beratungsgespräche und erzieherische Hilfen angeboten.

Unterkunft:
In der Regel kommen solche Kinder und Jugendliche Obhut in Pflegefamilien und Heimen unter, die mit den Ämtern entsprechende Verträge abgeschlossen haben. Während einer Inobhutnahme liegt das Aufenthaltsbestimmungsrecht temporär beim Jugendamt. Über eine weitergehende Übertragung des Sorgerechts entscheidet das Familiengericht.

Kooperativ
: Im Hinblick auf die Situation im Elternhaus ist das Jugendamt bei einer Gefährdung eines Minderjährigen zunächst verpflichtet, die Eltern zur Zusammenarbeit zu bewegen. Ist dies nicht möglich, kann das Jugendamt eine Eilentscheidung des Gerichts erwirken. Ist Gefahr im Verzug, ist der Minderjährige gegebenenfalls mit polizeilicher Unterstützung in Obhut zu nehmen, die richterliche Entscheidung ergeht im Nachhinein.