Der Weg zum nächsten WC ist für Menschen mit Inkontinenz oft zu lang – doch es gibt Behandlungsmöglichkeiten. Foto: dpa

Etwa sechs Millionen Menschen in Deutschland sind inkontinent – und das nicht nur Hochbetagte. Doch nur wenige Betroffene sprechen mit ihrem Arzt über das ihnen peinliche Thema. Dabei ist Inkontinenz kein Schicksal.

Etwa sechs Millionen Menschen in Deutschland sind inkontinent – und das nicht nur Hochbetagte. Doch nur wenige Betroffene sprechen mit ihrem Arzt über das ihnen peinliche Thema. Dabei ist Inkontinenz kein Schicksal.

Freiburg - Die Würde leidet am meisten – immer dann, wenn bei Verabredungen der erste Blick dem WC-Schildchen gilt. Immer dann, wenn bei jedem Gang vor die Tür eine Einlage nötig wird. Und vor allem dann, wenn wieder etwas in die Hose geht. „Inkontinenz – sei es bei Harn, aber noch mehr bei Stuhl – ist ein Leiden, das einen einsam werden lässt“, sagt Ulrich Baumgartner, Professor am Zentrum für Inkontinenz am Kreiskrankenhaus Emmendingen bei Freiburg.

Wie sehr sich die Menschen scheuen, zum Arzt zu gehen und über ihr Problem zu sprechen, zeigt sich an der fehlenden Statistik. Schätzungsweise sechs Millionen Menschen leben in Deutschland, deren Blasenfunktion gestört ist oder die unter einer Darm- und Schließmuskelschwäche leiden. Teilweise haben die Betroffenen sogar beides. Umso wichtiger ist es, bald einen Arzt aufzusuchen: „Sowohl die Harninkontinenz als auch die Stuhlinkontinenz ist in den allermeisten Fällen behandelbar“, sagt Baumgartner.

Für viele Patienten stellt sich jedoch schon die Frage, welchen Arzt sie ansprechen sollen: Sowohl Hausärzte als auch Gynäkologen oder Urologen sind in der Regel die ersten Ansprechpartner, heißt es beim Bundesverband für Gesundheitsinformation und Verbraucherschutz. Wer an einer Stuhlinkontinenz leidet, sollte zum Proktologen gehen. Idealerweise arbeiten alle beteiligten Ärzte eng zusammen. Wichtig ist bei der Diagnosefindung zu klären, seit wann die Probleme bestehen, wie häufig man eine Toilette aufsuchen muss und welche Medikamente eingenommen werden. „Gut ist es, sich auf solche Fragen schon zu Hause vorzubereiten“, sagt Ulrich Baumgartner.

Harninkontinenz

Die Ursachen für eine Harninkontinenz können zwar unterschiedlich sein: Sie reichen von häufigen Harnwegsinfektionen, Muskelerkrankungen wie multipler Sklerose bis hin zu häufigen Unterleibsoperationen wie beispielsweise an der Prostata, was bei Männern der häufigste Grund für eine Inkontinenz ist. Auch verschiedene Medikamente können eine Inkontinenz fördern.

Doch nicht umsonst wird Harninkontinenz mehr mit Frauen als mit Männern in Verbindung gebracht: „Das liegt an der Natur der Frau“, sagt Daniela Schultz-Lampel, Leiterin des Kontinenzzentrums Südwest in Villingen-Schwenningen und Mitglied im Expertenrat der Deutschen Kontinenz-Gesellschaft. „Meist liegt der Blasenschwäche eine Erschlaffung der Beckenbodenmuskulatur zugrunde.“ Was oft nach Geburten passiert. Aber auch häufige Unterleibsoperationen, Übergewicht oder körperliche Belastung können Ursachen sein.

Sie führt dazu, dass die Gebärmutter und andere Beckenorgane sich absenken und den Verschlussmechanismus der Blase beeinträchtigen. Auch das Alter lässt die Muskeln im Unterleib schwächeln: Durch die hormonellen Veränderungen verliert das Gewebe zusätzlich an Elastizität. „Frauen, die an einer solchen Beckenbodenabsenkung leiden, haben meist mit einer Belastungsinkontinenz zu kämpfen“, sagt Schultz-Lampel. Bei körperlicher Anstrengung wie Husten, Lachen oder beim Tragen von Tüten kommt es zum ungewollten Harnverlust.

Helfen kann ein gezieltes Beckenbodentraining mit verschiedenen Übungen, die die erschlaffte Muskulatur wieder stärken sollen. Teilweise wird dabei ein sogenanntes Biofeedback-Verfahren angewendet. Dabei können die Betroffenen mit Hilfe einer kleinen Elektro-Sonde abrufen, wie gut die gewünschten Muskeln angespannt werden. Zudem kann die Beckenbodenmuskulatur mit Elektroden stimuliert werden.

Auch Medikamente, etwa mit dem Wirkstoff Duloxetin, oder Anticholinergika können Abhilfe schaffen. In schweren Fällen kann auch eine Operation helfen, bei der das Bindegewebe des Beckenbodens gestrafft und Blase sowie Harnröhre angehoben werden. Oder man unterspritzt die Harnröhre mit Kunststoffen oder natürlichem Bindegewebe. Auch das stärkt den Schließmuskel.

Bei Männern wird meist ein künstlicher Schließmuskel eingesetzt. Dabei wird die Harnröhre durch ein Implantat so weit zusammengedrückt, dass der Urin nicht mehr unwillkürlich fließt.

Eine andere häufige Form der Blasenschwäche ist die Dranginkontinenz. Bei dieser ist der Verschlussapparat der Harnblase zwar intakt, aber die Muskulatur so verspannt, dass es zu einer überaktiven Blase kommt. Der Harndrang setzt so plötzlich ein, dass viele es nicht mehr zur Toilette schaffen. „Man vermutet, dass häufige Harnwegsinfektionen zu einer überempfindlichen Blase führen“, sagt die Urologin Schultz-Lampel. Die ist meist mit Disziplin wieder in den Griff zu bekommen: „Mit gezieltem Blasentraining sollten Betroffene die Abstände zwischen den Toilettengängen schrittweise verlängern.“ So wird die Blase wieder an größere Füllmengen gewöhnt. Medikamente können ebenfalls die angespannte Blasenmuskulatur lockern.

Stuhlinkontinenz

„Für mich beginnt ein neues Leben.“ Den Satz hört Ulrich Baumgartner vom Emmendinger Inkontinenz-Zentrum besonders oft, wenn er Patienten erfolgreich gegen ihre Stuhlinkontinenz behandelt hat. Er kann das verstehen: „Die Patienten haben oft ein Martyrium hinter sich. Sie versuchen alles, um das Leiden versteckt zu halten und möglichst lange alleine klarzukommen.“ Erst wenn es nicht mehr auszuhalten ist, trauen sie sich dann in die Sprechstunde. Meist sind es Frauen, deren schwächeres Muskel- und Bindegewebe – wie bei der Harninkontinenz auch – dazu führt, dass sie das Gefühl für den sicheren Verschluss verlieren.

Auch Verletzungen am Schließmuskel, ein Schlaganfall, eine Demenz und häufig auch Darmerkrankungen wie ein Reizdarm können die Nerven so schädigen, dass der Stuhlgang fehlgesteuert wird. Wer häufig an Durchfall leidet, überfordert auf Dauer den Schließmuskel – vor allem, wenn dieser ohnehin altersbedingt schwächer wird. „Bei solchen Fällen müssen erst die Grunderkrankungen behandelt werden“, sagt Baumgartner. Medikamente und eine Ernährungsumstellung bewirken da einiges.

Liegt eine Beckenbodensenkung vor, wie bei den meisten Patientinnen, wird eine Beckenbodengymnastik verordnet, meist unterstützt von einem Biofeedback-Gerät, mit dem das Training überwacht werden kann. Mit Tampons und Einlagen können die Betroffenen einigermaßen sorglos aus dem Haus gehen. Hilft das nicht, wird operiert. „Die dafür infrage kommenden Methoden der Enddarm-Chirurgie sind vielfältig, aber auch sehr erfolgreich“, sagt Baumgartner. Für den Experten ist es wichtig, dass die Betroffenen wissen: „Man kann ihnen helfen – aber sie müssen sich zum Arzt trauen.“