Schulwahl soll nicht mehr am Rollstuhl hängen Foto: dpa

Vom kommenden Schuljahr an können Eltern behinderter Kinder entscheiden, ob sie ihr Kind auf eine Sonderschule oder eine Regelschule schicken.

Stuttgart - Was ändert sich?
Die Sonderschulpflicht wird abgeschafft. Eltern von Kindern mit Behinderungen können künftig entscheiden, ob sie ihr Kind in eine allgemeine Schule oder in eine Sonderschule schicken. Kinder können auch eine Schule besuchen, wenn sie deren Abschluss nicht anstreben oder erreichen können. „Unser Ziel ist eine Gesellschaft, in der es selbstverständlich ist, dass Menschen mit und ohne Behinderung zusammen leben. Deshalb wollen wir, dass mehr Kinder mit und ohne Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot gemeinsam lernen“, sagt Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne).
Was müssen Eltern tun, wenn ihr behindertes Kind eine allgemeine Schule besuchen will?
Sie müssen sich an das Staatliche Schulamt wenden. Grundsätzlich will das Kultusministerium alle Schulen für Kinder mit Behinderungen öffnen. Diese haben aber keinen Anspruch auf eine bestimmte Schule und auf eine bestimmte Schulart. Dieses sucht in Rahmen einer Bildungswegekonferenz mit den Eltern sowie der Behinderten- und der Jugendhilfe eine passende Schule. Es kann auch eine andere Schule als die von den Eltern gewünschte festlegen, wenn etwa unverhältnismäßig hohe Kosten entstehen würden. Ziel ist die so genannte Gruppeninklusion – in Inklusionsklassen sollen möglichst mehrere Kinder mit Einschränkungen aufgenommen werden. . „Die Erfahrungen in den Versuchsregionen haben gezeigt, dass die Interessen und Bedürfnisse der Schüler besser und effizienter in Schülergruppen unterstützt werden können“, sagt Kultusminister Andreas Stoch (SPD). Zudem stehen der Klasse dann mehr zusätzliche Stunden zur Verfügung, so dass meist zwei Lehrer im Klassenzimmer sind – darunter ein Sonderpädagoge.
Warum bildet Baden-Württemberg keine Schwerpunktschulen wie andere Länder?
Ginge es nach den Kommunen, dann würden Kinder je nach Behinderung an einer Schwerpunktschule unterrichtet. Grün-Rot lehnt eine solche Regelung ab. Ihr Argument: Dann würde Inklusion nur an einem Teil der Schulen stattfinden, andere müssten sich mit dem Thema gar nicht beschäftigen. Auch könnten sich dadurch die Fahrwege für Kinder mit Handicaps deutlich verlängern. Ziel ist, dass Kinder möglichst eine Schule in der Nähe ihres Wohnorts besuchen können .
Was bringt gemeinsamer Unterricht den nichtbehinderten Kindern?
Für sie wird der Umgang mit Kindern mit Einschränkungen zur Normalität, sie verlieren Ängste und können Empathie und Hilfsbereitschaft entwickeln. Die Sonderpädagogen, die zusammen mit Fachlehrern unterrichten, kommen auch ihnen zugute.
Wie unterstützt das Land die Schulen ?
Allgemeine Schulen, die Kinder mit Behinderungen aufnehmen, erhalten Unterstützung durch Sonderschullehrer. Je nach Schwere der Behinderung stehen für jeden Schüler eine bestimmte Zahl von Lehrerstunden zur Verfügung. Ziel ist, dass in Integrationsklassen möglichst häufig zwei Lehrer im Klassenzimmer sitzen. Je nach Behinderung werden die Schüler auch von Schulbegleitern unterstützt.
Wie werden die Lehrer auf die neuen Aufgaben vorbereitet?
Der Unterricht in einer Inklusivklasse stellt an die Lehrer hohe Anforderungen. Je nach Einschränkung sind die Bedürfnisse der Kinder sehr unterschiedlich – ein blindes Kind braucht andere Unterstützung und Lernmaterialien als ein hörgeschädigtes Kind oder ein Kind im Rollstuhl. Geplant sind Fortbildungen für Lehrer. Zudem soll das Thema Inklusion bei der Lehrerausbildung eine größere Rolle spielen, künftig müssen sich alle Lehramtsstudenten mit dem sonderpädagogischen Fragen befassen.
Wie wird die Inklusion finanziert?
Pro Jahr sollen 150 bis 200 Sonderpädagogen zusätzlich eingestellt werden, die entweder an einer Sonderschule oder an einer allgemeinen Schule arbeiten – das macht etwa 100 Millionen Euro im Jahr. Die Kommunen erhalten vom Land im nächsten Schuljahr zusätzlich 18 Millionen Euro, 2016/17 24 Millionen Euro und in den beiden Schuljahren darauf 30 Millionen Euro, um beispielsweise Umbauten an Schulen, Schulbegleiter oder den Schülertransport mitzufinanzieren. Nach drei Jahren sollen die tatsächlichen Kosten ermittelt und bei Bedarf ausgeglichen werden.
Was passiert mit den Sonderschulen?
Die Sonderschulen sollen sich zu sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren weiterentwickeln und ihre Expertise auch den Schülern zur Verfügung stellen, die inklusiv beschult werden. Die Landesregierung geht davon aus , dass gut ein Viertel der rund 53 000 Schüler mit Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsabgebot allgemeine Schulen besuchen werden.
Wie reagieren Verbände und Opposition?
„Für ein „alles ist möglich“ fehlen auf absehbare Zeit bei den Kommunen, beim Land und vor allem in den Schulen die Mittel. Es schürt auch unnötig Ängste bei Eltern um den Bestand des Sonderschulwesens, weil jeder weiß, dass nicht überall alles finanzierbar ist“, sagt Städtetagspräsidentin Gerlinde Heute-Bluhm.
„Wir machen einen ersten Schritt in die richtige Richtung“, sagt Gemeindetagspräsident Roger Kehle. „Den Eltern die Wahlfreiheit zu geben, die durch die Bildungswegekonferenz wieder eingeschränkt wird, halten wir aber für problematisch. Wir befürchten, dass es da Prozesse geben wird, die nicht zugunsten des Landes ausgehen werden.“
„Geklärt werden müssen noch finanzielle Fragen“, sagt Landkreistagspräsident Joachim Walter. „Unsere Sorge ist: Was passiert. wenn sich die wirtschaftliche Lage ändert. Uns wäre lieb, wenn sich das Land schon heute zu seiner finanziellen Verpflichtung bekennen würde.“
„Die Sorge bleibt: gibt es in Wohnortnähe eine allgemeine Schule, die personell, sächlich und räumlich so ausgestattet ist, um auch Kindern mit schweren Behinderungen und hohem Unterstützungsbedarf gerecht zu werden?“, meint Jutta Steidel-Pagel, Geschäftsführerin des Landesverbands für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung.
Die inklusionspolitische Sprecherin der CDU-Landtagsfraktion, Monika Stolz, fordert eine breite Fortbildungsaktion für Lehrer. Andernfalls drohe die Gefahr, dass Lehrer „völlig unvorbereitet in die Inklusion starten müssen. Dies würde dem Wohl der Schülerinnen und Schüler mit Behinderung deutlich schaden und zugleich die Lehrkräfte massiv überfordern.“
Die FDP-Fraktion wirft Grün-Rot eine „Besorgnis erregende Unschärfe“ vor. „Wenn alle Beteiligten im Unklaren darüber sind, was ein gestärktes Elternwahlrecht konkret bedeutet, sind Unstimmigkeiten und Konflikte vor Ort vorprogrammiert – zu Lasten der Betroffenen und ihrer Eltern“, sagte der FDP-Bildungsexperte Timm Kern.
„Inklusion kann nur Realität werden, wenn Eltern an allgemeinbildenden Schulen ein gutes Angebot vorfinden. Jetzt ist es Aufgabe der Politik, gute Bedingungen zu schaffen“, sagt Doro Moritz, Landeschefin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Bildungsangebot