Kunstwerk einer Frau mit Handicap Foto:  

Südtirol zieht nicht nur Touristen an. Bildungspolitiker reisen gern in den Norden Italiens, um mehr über das gemeinsame Lernen von Schülern mit und ohne Behinderungen zu erfahren.

Bozen - Für viele Eltern und Lehrer war es ein Schock: Mitten in den Sommerferien 1977 beschloss die damalige Mitte-links-Regierung in Rom, mit sofortiger Wirkung die Sonderschulen zu schließen. Seitdem lernen in den Grund- und Mittelschulen, an den Gymnasien und beruflichen Schulen in Südtirol Kinder mit Einschränkungen zusammen mit Gleichaltrigen ohne. Heute, fast 40 Jahre später, ist der gemeinsame Unterricht selbstverständlich. In den Schulen arbeiten Fachlehrer, Integrationslehrer und andere Spezialisten wie Schulbegleiter oder auch Pflegekräfte zusammen.

Ein Modell für Baden-Württemberg? Bei ihrem Besuch in Bozen wollten die Bildungspolitiker aus dem Stuttgarter Landtag herausfinden, wie die Südtiroler die Aufgabe bewältigen, die ihnen noch bevorsteht: Vom nächsten Schuljahr an haben auch in Baden-Württemberg Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf das Recht, eine Regelschule zu besuchen. Voraussichtlich Mitte Juli wird im Landtag das Schulgesetz geändert. Die Sonderschulpflicht wird abgeschafft, Eltern können nun selbst entscheiden, ob sie ihr Kind in eine Sonderschule oder in eine Regelschule schicken. Damit setzt Grün-Rot die UN-Behindertenrechtskonvention um, die eine Ausgrenzung Behinderter untersagt. Anders als in manchen Bundesländern bleiben die Sonderschulen aber bestehen – ein Wunsch vieler Eltern und Lehrer.

Ein Modell, das bei vielen Gesprächspartnern in Südtirol eher auf Verwunderung stößt, auch wenn bei ihnen nicht immer alles glatt läuft. „Wir haben bisher gute Erfahrungen gemacht“, erzählt Franz Tutzer, Direktor der Fachoberschule für Landwirtschaft in Auer. An seine Schule, die mit einem beruflichen Gymnasium vergleichbar ist, kommen erst seit wenigen Jahren Jugendliche mit Beeinträchtigungen. Anfangs seien die Lehrer sehr verunsichert gewesen, inzwischen hätten sie gelernt, sich auf blinde Schüler, Jugendliche mit Autismus oder anderen Einschränkungen einzustellen. „Trotzdem ist es eine Herausforderung für die Klassenräte“, räumt er ein. Ohne Unterstützung durch die Integrationslehrer wäre die Aufgabe nicht zu bewältigen. Im abgelaufenen Schuljahr standen für 30 betroffene Schüler fünf Extralehrer zur Verfügung, dazu kamen noch Schulbegleiter für einzelne Schüler. Die technischen Hilfen, die die Schule benötigt, bekommt sie leihweise zur Verfügung gestellt.

Nicht alle Schüler müssen das gleiche Ziel erreichen

„Alle Kinder mit einer Einschränkung lernen nach einem eigenen Bildungsplan“, erläutert Veronika Pfeifer, Leiterin der Fachstelle für Inklusion und Gesundheitsförderung, ihren Zuhörern aus Deutschland. Den erstellen Lehrer, Eltern und Vertreter des Gesundheitswesens gemeinsam – und er wird regelmäßig überprüft und, wenn nötig, angepasst. Zu den Grundprinzipien gehört, dass nicht alle Schüler einer Schule das gleiche Ziel erreichen müssen. So können beispielsweise auch Kinder mit Down-Syndrom das Gymnasium besuchen – obwohl klar ist, dass sie nie die Matura, das Abitur, machen werden.

Die Skepsis und Ängste von Lehrern und Eltern seien weitgehend verschwunden, berichtet Veronika Stirner, Landtagsabgeordnete der Südtiroler Volkspartei. Als sie noch Englisch an einem Gymnasium unterrichtete, saßen auch Kinder mit geistiger Behinderung in ihrer Klasse. „Den Lernerfolg der Schüler ohne Behinderungen hat das nicht beeinträchtigt“, sagt sie. Ihre eigenen Kinder hätten dank des gemeinsamen Lernens keine Scheu oder Vorbehalte gegenüber behinderten Menschen. Die neue Herausforderung seien Kinder, deren Einschränkungen weniger offensichtlich seien, etwa mit Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom oder Teilleistungsstörungen.

Den Schulen in Südtirol ist wichtig, dass solche Beeinträchtigungen frühzeitig erkannt werden. Denn nur wenn eine ärztliche Diagnose vorliegt, erhalten die Betroffenen beziehungsweise die Schulen auch entsprechende Unterstützung. Dass in den vergangenen Jahren bei der Zusatzförderung gespart wurde, ist aus Sicht von Stirner bisher aber kein Problem. Teilweise habe die gute Versorgung dazu geführt, dass manchen Kindern zu vieles abgenommen wurde – zulasten ihrer Selbstständigkeit und ihres Selbstvertrauens.

Zu viel Fürsorglichkeit könne Behinderte in ihrer Entwicklung hemmen, meint auch Judith Dibiasi, die bei der Lebenshilfe Südtirol die sogenannte Naturgruppe leitet. Vor einigen Jahren hatten Männer und Frauen mit geistigen Einschränkungen entschieden, dass sie draußen arbeiten wollten. Sie fragten bei Bürgermeistern und Unternehmern nach Jobs. Die regelmäßige Arbeit habe ihr Selbstvertrauen und ihre Selbstständigkeit gestärkt, sagt Dibiasi. Das sei die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben. Für 2000 Euro im Jahr halten sie in ihrer Gemeinde Straßen und Plätze sauber, auf einem nahe gelegenen Weingut kümmern sie sich um Ordnung im Hof und pflegen die Parkanlagen – im Gegenzug stehen ihnen eine Wohnung und vergünstigtes Essen in der Betriebskantine zur Verfügung. Erste Schritte auf dem Weg zur beruflichen Eingliederung.

Behinderte müssen im Job viele Hürden überwinden

Da gebe es noch immer Probleme, klagt Johanna Marsoner, Leiterin des Sozialzentrums in Kurtatsch, in dem Behinderte arbeiten und teilweise auch leben. Nicht nur Unternehmen, sondern auch die öffentliche Verwaltung zahlten oft lieber einen Ausgleich, als Behinderte einzustellen. Ohne eine Gesetzesänderung werde sich daran auch nichts ändern.

Ein Thema, das den Politikern aus dem Südwesten sehr vertraut ist – auch in Baden-Württemberg müssen Behinderte viele Hürden überwinden, wenn sie einen Arbeitsplatz suchen. „Beeindruckend finde ich die Selbstverständlichkeit, mit der alle Schulen die Kinder mit Handicaps aufnehmen – auch wenn diese den Schulabschluss nicht erreichen können und ein ganz anderes Bildungsziel haben“, sagt der Vorsitzende des Schulausschusses im Landtag, Siegfried Lehmann (Grüne). „Wir müssen intensiv daran arbeiten, dass Ängste abgebaut werden und die Haltung sich verändert“, fordert Klaus Käppeler, Rektor einer Grund- und Hauptschule, die vor fünf Jahren erstmals einen autistischen Schüler aufgenommen hat. Nötig seien eine gute Vorbereitung und eine enge Zusammenarbeit mit Sonderpädagogen und Schulbegleitern.

„Inklusion ist ein langer, mühsamer Weg“, meint auch Georg Wacker, bildungspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion. Das dürfe nicht überstürzt werden. „Eine gemeinsame Beschulung ist nur dort möglich, wo auch eine entsprechende personelle Ausstattung in guter Qualität gewährleistet wird.“ Qualitativ hochwertige Sonderschulen seien auch in Zukunft unverzichtbar.

Daran will Kultusminister Andreas Stoch (SPD) nicht rütteln – das würde zu einem Kulturkampf führen, befürchtet er. Lieber nutze er die Energie, nach und nach die Lehrer für die neue Aufgabe zu qualifizieren. Nötig ist aus seiner Sicht ein anderes Selbstverständnis der Lehrer: An die Stelle des Einzelkämpfertums müsse die Teamarbeit rücken – im Mittelpunkt die Frage stehen, was Schüler brauchen, damit sie sich gut entfalten können. „Dass es in Südtirol kaum Klagen von Eltern nichtbehinderter Kinder gibt, ist erfreulich. Es zeigt, dass es diesen Bewusstseinsprozess hin zur Inklusion geben kann. Aber wir sehen auch, dass es nach fast 40 Jahren immer noch Probleme gibt. „Wir brauchen also einen langen Atem.“