Frankreich hat derzeit im europaweiten Vergleich eine der niedrigsten Inflationsraten. Woran liegt das?
Frankreich hat mit 5,8 Prozent eine der vergleichsweise niedrigsten Inflationsraten Europas. In Deutschland beträgt die Inflation derzeit 8,2 Prozent. Der Unterschied ist wohl darauf zurückzuführen, dass Frankreichs Präsident Emmanuel Macron 2021 als Wiederwahlkandidat bereits massiv in die Wirtschaft eingegriffen hatte. Der Gaspreis ist in Frankreich seit vergangenem Herbst eingefroren und die Erhöhung des Strompreises auf vier Prozent beschränkt, während der Marktpreis 30 Prozent höher läge. Dazu kam damals schon ein Benzinrabatt von 18 Cent pro Liter an der Tanksäule.
Diese Maßnahmen kosteten den Staat rund 20 Milliarden Euro. Jetzt sind die Wahlen vorbei, doch die sozialpolitische Atmosphäre bleibt gespannt. Die Linksallianz „Nupes“ des Radikalpopulisten Jean-Luc Mélenchon betreibt in der Nationalversammlung eine scharfe Oppositionspolitik. Auch die Gelbwesten, also jene Vertreter der unteren Mittelschicht, die Macron 2019 seine bisher schlimmste Sozialkrise beschert hatten, melden sich wieder zurück.
Täglich werden neue Maßnahmen beschlossen
Sie alle führen momentan nur ein Wort im Mund: „Pouvoir d’achat“, zu Deutsch: Kaufkraft. Politisch geschwächt muss Macron diese Woche in der Nationalversammlung neue Zugeständnisse machen. Täglich werden neue Maßnahmen beschlossen.
Hauptpunkt ist die Teuerungsanpassung der Renten und der Sozialhilfen im Umfang von vier Prozent. Die gut fünf Millionen Beamten erhalten ihrerseits eine Lohnaufbesserung von 3,5 Prozent. Und für die 20 Millionen Angestellten des Privatsektors wird die sogenannte Macron-Prämie auf maximal 6000 Euro aufgestockt. Diese in der Höhe fakultative Prämie existiert seit 2019 und betrug bisher maximal 1000 Euro; effektiv entrichtet wurden im Schnitt 542 Euro im Jahr. Die nun beschlossene Erhöhung auf 3000 Euro, im Fall einer betrieblichen Gewinnbeteiligung sogar auf 6000 Euro, dürfte nach Schätzungen von Personalchefs die Einkünfte der Erwerbstätigen bis Ende 2023 um 100 Euro im Monat aufbessern. Bei den chronisch tiefen Löhnen in Frankreich kann das rasch einmal fünf Prozent Zuschlag ausmachen.
Die Linksopposition will reale Lohnerhöhungen
Die Linksopposition lief gegen diese steuer- und abgabenfreie Prämie Sturm – sie verlangte reale Lohnerhöhungen. Abgeordnete aus Macrons Partei Renaissance entgegneten, darauf habe das Parlament keinen Einfluss. Wie so oft in Frankreich dürfte die ursprünglich provisorische Macron-Prämie zur Norm werden, auch wenn die Inflation abflauen sollte.
Macron beschert damit seinem Land, ohne es zu sagen, eine liberale Arbeitsreform: Da ein Teil der Saläre nicht mehr durch die – in Frankreich sehr hohen – Steuern und Abgaben belastet sind, sieht sich der Staat wichtiger Einkünfte beraubt; umgekehrt stärkt der Präsident damit die Wirtschaftskraft des Landes.
So erniedrigend wie Almosen?
Dieser zentrale politische Punkt wurde im Parlament heiß diskutiert, stieß in der breiten Öffentlichkeit aber kaum auf Resonanz. Wichtiger für die schlechter Verdienenden sind weitere Maßnahmen: Mieterhöhungen werden auf 3,5 Prozent gedeckelt, zudem sind im Supermarkt Preisrabatte von bis zu 50 Prozent erlaubt. Dazu kommen Sozialzuschüsse wie ein Nahrungsmittelscheck von 100 Euro oder ein Benzinbonus für lange Fahrten an den Arbeitsplatz.
Der Linksabgeordnete François Ruffin wandte in der Parlamentsdebatte ein, solche staatlichen „Schecks“ seien für die Ärmsten so erniedrigend wie früher Almosen. Viele Bürgerinnen und Bürger erklären sich in den TV-Reportagen aber froh über jeden Zuschuss, der ihnen derzeit über das Monatsende hinweg helfe.
Macron hat die öffentlichen Finanzen nicht in den Griff bekommen
Die französische Staatskasse leidet nicht minder. Die neuen Maßnahmen dieser Woche beziffern sich auf weitere 20 Milliarden Euro. Macht in weniger als einem Jahr 40 Milliarden. Macrons Versprechen, das Haushaltsdefizit in diesem Jahr auf fünf Prozent zu beschränken, erscheint dem französischen Rechnungshof schon jetzt illusorisch. Der Präsident hat sich seit seiner ersten Wahl von 2017 als unfähig erwiesen, die öffentlichen Finanzen in den Griff zu kriegen. Unter ihm ist die Staatsschuld von weniger als 100 auf 115 Prozent geklettert – in absoluten Zahlen: 2900 Milliarden Euro. Das ist mehr als in Italien. Und bei den Zinserhöhungen der Europäischen Zentralbank dürfte sich das bald rächen. Macron muss in Frankfurt vielleicht bald selber um Almosen betteln.