Amitabh Bachchan als manipulativer Hypochonder in „Piku“ Foto: Festival

Die Hitze lockt in die Biergärten, doch ein buntes Völkchen drängt ins Kino, sucht beim Indischen Filmfestival Stuttgart Zugang zu einer Welt der Farben, Rituale und Weisheiten. Unter der exotischen Oberfläche freilich liegen universelle menschliche Dramen, die weit über die Kulisse hinausreichen.

Stuttgart - Wie umgehen mit den alternden Eltern, wenn sie nicht mehr zurechtkommen? In leichtfüßig-komödiantischer Zuspitzung bearbeitet Shoojit Sircar diese Frage in „Piku“. Der große Filmstar Amitab Bachchan (72), dessen Filme das Stuttgarter Festival seit seiner Gründung begleiten, spielt mit allen Finten und Finessen die Hauptrolle des hypochondrischen Manipulators, der mit seiner chronischen Verstopfung das Leben seiner pflichtbewussten Tochter Piku dominiert. Die ist nicht nur eine hübsche und kluge Architektin, sondern auch eine unverheiratete Beißzange mit sehr eigenem Kopf.

Deepika Padukone hält die Rolle konsequent durch, weil das urkomische Roadmovie-Drehbuch sie lässt. In einem besserwisserischen Familienclan – Tanten, Onkel, Bruder – bietet ihr der Chef eines Taxiunternehmens (Irrfan Khan) den Widerstand, den sie braucht. Alle Fahrer weigern sich, die Exzentrikerin und ihren Vater von Delhi nach Kalkutta zu fahren, also tut er es selbst – und bringt sie zurück zu ihren Wurzeln, wahrhaftig und kitschfrei. Großes Kino, das auch in Deutschland Publikum finden könnte.

Bürgermeister, Schergen, lüsterner alter Priester

Nicht minder beeindruckend: „Four Colours“, ein präzise ausformuliertes menschliches Drama in der Enge dörflicher Tradition. Der Patriarch eines Kaffs mit viel befahrener Bahnstrecke, aber ohne Bahnhof, hat eine Affäre mit einer Unberührbaren, deren älterem Sohn er die Schule bezahlt. Sein Gefolge – Bürgermeister, Schergen, lüsterner alter Priester – steckt in vorurteils- und traditionsgesteuerter Dumpfheit fest. Ein nicht standesgemäßer Liebesbrief an die verwöhnte Tochter, ein tödlicher Schlangenbiss – in leinwandfüllend ineinandergreifenden Motiven und Symbolen implodiert das Lügengebilde in 90 fein choreografierten Minuten – eine Sternstunde des Kinos.

Die Leute stehen Schlange, viele Vorstellungen sind ausverkauft beim Festival. „Das Interesse ist da, die Leute halten uns die Treue“, sagt Festival-Leiter Oliver Mahn vom Filmbüro-Baden-Württemberg. Festival-Kuratorin Uma da Cunha, profunde Kennerin der indischen Filmszene und seit der Festival-Gründung 2004 dabei, führt dies auch auf die konsequente Programmierung zurück: „Die Szene in Indien verändert sich. Bollywood hat Probleme mit seinem eskapistischen Nonsens, die Leute wollen wahrhaftige Geschichten. Wir haben die drei besten Bollywood-Filme dieses Jahrgangs und die besten Independent-Produktionen, das Team hat gut ausgewählt. Ich berate sie, aber es ist immer Teamwork.“

Ein Schocker am Freitag: „India’s Daughter“, eine Dokumentation der Britin Leslie Udwin über eine Gruppenvergewaltigung 2012, die um die Welt ging: Eine 23-jährige Medizinstudentin wurde in einem Bus von sechs Männern schwer misshandelt und starb wenige Tage später. Udwin rekonstruiert den Ablauf, zeigt die landesweiten Proteste und das archaische Rollenverständnis dahinter: Viele männliche Inder sehen Frauen in der Öffentlichkeit als Freiwild. Udwin hat die Vergewaltiger interviewt, viel schlimmer aber sind deren Anwälte: Das Opfer sei selbst schuld, sagen beide, Frauen hätten abends allein nichts zu suchen draußen ohne den Schutz männlicher Verwandter.

Film selbst finanziert und herben Tiefschlag erlitten

„Die Anwälte mit all ihrer Bildung und ihren Abschlüssen glauben jedes Wort, das sie sagen“, erzählt Udwin im vollen Metropol 3. „Das ist viel schockierender als alles, was die Vergewaltiger von sich gegeben haben, die vom Tag ihrer Geburt an auf so ein Frauenbild programmiert wurden.“ Sie hat den Film selbst finanziert und einen herben Tiefschlag erlitten: Er wurde in Indien verboten. „Das war, bevor irgendjemand dort ihn überhaupt gesehen hatte“, sagt sie. „Sie fürchteten, die Proteste würden wieder aufflammen, genau diese Proteste waren es aber, nicht die Tat selbst, die mich zu diesem Film inspiriert haben.“ Der Grund ist für sie klar: „Auch etliche männliche Abgeordnete im indischen Parlament kämpfen mit Sexismus-Vorwürfen.“ Uma da Cunha stört, „dass der mediale Fokus nun auf dem Verbot liegt und nicht mehr auf dem Thema des Films“. Selbiges ist wieder aktuell: Gerade erst wurde eine 19-Jährige in Delhi von zwei Männern ermordet, die ihr nachgestellt hatten – doch die Polizei war untätig geblieben. Udwin bekam für „India’s Daughter“ den Stuttgarter Publikumspreis.

Die hässliche Fratze, die Indien da zeigt, passt so gar nicht zu den Vorstellungen spiritueller Erleuchtung, die Viele im Westen hegen. Tatsächlich bleibt das Land in vielem rätselhaft. Die Zähne daran ausgebissen hat sich der Kanadier Sturla Gunnarsson, der in „Monsoon“ dem Mythos der indischen Regenzeit auf die Spur kommen wollte. Doch Wetterfrösche, Wissenschaftler und normale Menschen, die er interviewt, geben wenig mehr preis als höfliche Allgemeinplätze: Der Monsun sei die wichtigste Wasserquelle des Landes, „die Seele Indiens“, sagt einer. Spektakulär sind Gunnarssons Natur-Motive: Wolkenberge türmen sich auf, verschlingen das Land, überfluten es.

Oft sagen Bilder mehr als Worte, Taten mehr als Geschwätz. Davon lebt das Kino, ganz besonders das vielgestaltige indische mit seinen universellen menschlichen Dramen, das in Stuttgart die Säle füllt.