Im sächsischen Dorfchemnitz haben 47,4 Prozent der Wähler die AfD gewählt. Foto: Dunte

In keinem anderen Bundesland hat die AfD so viele Stimmen erhalten wie in Sachsen. Der Grund ist nicht überall Ausländerfeindlichkeit – eine Spurensuche.

Berlin - Die Hauptstraße, die sich durch den Ort schlängelt, ist rissig. Links steht ein kleines Einfamilienhäuschen mit Vorgarten. Am rechten Straßenrand stehen zwei Schafe und starren auf die Straße. Viel zu sehen gibt es hier nicht. Und dennoch blickt ganz Deutschland seit dem vergangenen Wochenende auf Dorfchemnitz. Die Gemeinde, in der fast jeder zweite Wähler (47,4 Prozent) bei der Bundestagswahl seine Stimme der AfD gegeben hat. So viele wie nirgendwo sonst.

Thomas Schurig sitzt in der Küche der Gemeindeverwaltung. Auf der gelben Plastiktischdecke breitet er zwischen Tee und leeren Joghurtbechern mehrere Tageszeitungen vor sich aus. Auf allen ist das Gesicht der AfD-Chefin Frauke Petry zu sehen. „Seit Sonntag ist unsere Gemeinde bekannt – nur die Politik interessiert sich nicht für uns“, sagt der 55-Jährige, der hier seit zwei Jahren ehrenamtlicher Bürgermeister ist. Die Gemeinde im sächsischen Landkreis Mittelsachsen zählt 1560 Einwohner, die Ausländerquote liegt bei 0,4 Prozent. „Die Stimmung hier ist mit Sicherheit nicht rechts“, sagt Schurig. Das Problem seien nicht die Ausländer, denn die gebe es hier nicht. Das Problem seien die finanziellen Nöte. Die der Bürger, aber auch die der Gemeinde.

„Wir wurden vergessen“, sagt der Bürgermeister

Weil das Geld schon lange knapp ist, wurde vor fünf Jahren die örtliche Grundschule geschlossen. Der Bus verkehrte einst mehrmals die Stunde, inzwischen nur noch ein paarmal am Tag. Die Straßenlaternen werden in der Nacht von halb zwölf bis halb fünf abgestellt. Und weil es inzwischen auch keine Sparkassenfilialen mehr gibt, kommt alle zwei Wochen für 15 Minuten ein Auto der Sparkasse vorbei, an dem die Bürger Geld abheben können. „Wir wurden vergessen von der großen politischen Kraft“, moniert der fünffache Familienvater und Inhaber einer Handwerksfirma.

Als im Sommer die AfD anfragte, ob sie am 6. September eine Wahlveranstaltung im örtlichen Gasthof abhalten könne, sagte Schurig zu. Auch des Geldes wegen. Rückblickend könnte das eine Entscheidung gewesen sein, die zum Wahlerfolg der AfD hier im Ort beigetragen hat. Schurig weiß das und rechtfertigt sich sogleich: „Mit dem Ausgang der Wahl habe ich nichts zu tun, ich habe nur den Gasthof zur Verfügung gestellt, weil wir das Geld gebraucht haben.“ Alle anderen Parteien hätte er genauso willkommen geheißen, aber die würden ja schon seit Jahren nicht mehr vorbeikommen. So würde auch niemand sehen, wie schwach die Infrastruktur, wie schwierig die ärztliche Versorgung und wie schlecht der Breitbandausbau ist. „Machen Sie mal Ihr Handy an, dann sehen Sie ja, was hier los ist. Nämlich nichts“, sagt Schurig. Der Rückzug von Parteichefin Frauke Petry verwundert ihn nicht – für die AfD findet er es schade. „Die wird jetzt eben nach rechts abdriften. Aber die Petry hat einen Arsch in der Hose. Die wird einfach eine neue Partei gründen“, sagt der Bürgermeister.

„Man hat das Gefühl, dass man abgehängt wurde“, sagt die Renterin

Charlotte Flicke ist eine der AfD-Wählerinnen in Dorfchemnitz. Von der Partei selbst hält sie nicht viel, erhofft sich aber, dass sie den anderen Parteien im Parlament aufzeigt, was in Deutschland falsch läuft. „Eigentlich bin ich Rentnerin, aber ich muss mir als Hauswirtschafterin etwas dazuverdienen“, sagt die 64-Jährige. Sie steht im Innenhof des örtlichen Pflegeheims und hält einen Putzlappen in der Hand. „Die SPD regiert seit Jahren mit, passiert ist in Sachen sozialer Gerechtigkeit aber nichts.“ Wen sonst als die AfD hätte sie wählen sollen?, fragt sie. 45 Jahre habe sie gearbeitet, drei Kinder großgezogen und stünde nun mit einer Rente von 608 Euro da. „Wenn ich jetzt sterbe, hätten meine Kinder kein Geld, mich zu beerdigen.“

Am Ortsrand geht Sieglinde Dierssen entlang des Chemnitzbachs mit ihrem Dackel spazieren. Wen sie gewählt hat, möchte sie nicht verraten. Die AfD sei es jedenfalls nicht gewesen. Ihr selbst gehe es gut, sie habe Glück gehabt, könne von ihrer Rente leben. Gemeinsam mit ihrem Mann ist sie vor 33 Jahren hergezogen. „Man hat hier schon das Gefühl, dass man total abgehängt wurde“, sagt die 77-Jährige. Nach der Wende habe das mit der Arbeitslosigkeit begonnen, inzwischen seien es die Fördermittel, die immer geringer würden. In dem Ergebnis der Wahl versucht sie dennoch etwas Positives zu sehen: „Hoffentlich wachen die Politiker jetzt endlich mal auf.“

„Es gibt viele Beweggründe“, sagt ein AfD-Wähler

Auf dem Weg nach Rathmannsdorf, einer weiteren AfD-Hochburg in der Sächsischen Schweiz-Osterzgebirge, reihen sich viele kleine Ortschaften aneinander. Neben wenigen Bäckereien und Metzgereien stehen viele leere Häuser. Abgesehen von der AfD, deren Plakate alle paar Meter hängen, hat der Wahlkampf der anderen Parteien nirgendwo große Spuren hinterlassen. Kurz vor Rathmannsdorf hängt ein Plakat der CDU. Vom Gesicht Angela Merkels ist nicht mehr viel zu erkennen. In schwarzer Farbe ist darauf geschrieben: „Jedes fünfte Kind arm, dafür lebenslang!“

Im Grillhähnchenstand vor einem Discounter zwischen Rathmannsdorf und Bad Schandau steht Peter Meyer. Es ist Feierabendzeit, und die Hähnchen, die sich hinter seinem Rücken drehen, sind goldbraun gegrillt. Auch hier hat die AfD viele Wähler für sich gewinnen können. Allein in Rathmannsdorf, das zum Wahlkreis von Frauke Petry gehört, haben 43,9 Prozent der Wähler für die AfD gestimmt. Auch Meyer und seine 18-jährige Tochter haben sich für die AfD entschieden. Warum? „Es gibt so viele Beweggründe, die kann ich gar nicht alle aufzählen“, sagt der 68-Jährige. Einer davon sei die Ungleichheit zwischen Ost und West. „Eine Einheit gibt es bis heute nicht. Weder bei der Miete noch bei den Löhnen.“ Die AfD war für ihn das geringere Übel, die anderen Parteien seien sich ihrer Sache viel zu sicher. Seit drei Jahren ist er in Rente, doch die reicht nicht. Deshalb verkauft er sechs Tage die Woche Grillhähnchen.

„An der Kommunalpolitik liegt es nicht“, sagt der Bürgermeister von Rathmannsweiler

Ein paar Hundert Meter weiter sitzt Bürgermeister Uwe Thiele (CDU) in seinem Büro im Gemeindehaus und hält Bürgersprechstunde. Außer einer 80-Jährigen, die wissen will, wie viel ihr Grundstück wert ist, sei heute nicht viel los. Das sei aber immer so, denn die Menschen hier seien zufrieden. Auf die Frage, ob das Wahlergebnis der Rathmannsdörfer nicht doch Ausdruck von Unzufriedenheit sei, antwortet er mit einem sächsischen Sprichwort: „Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis tanzen.“ Er selbst könne über die Beweggründe nur spekulieren. An der Kommunalpolitik liege es nicht. „Im Gemeinderat sitzt nicht nur die CDU, sondern auch eine Wählervereinigung und eine Bürgerinitiative. So gut wie alle Beschlüsse werden einstimmig abgeschlossen.“ Bleibe also die Bundespolitik. „Die Themen, die die Menschen hier bewegen, sind Asyl und Kriminalität an der Grenze zu Tschechien. Beides wurde von der Bundespolitik nicht zufriedenstellend bewältigt“, sagt Thiele.

Vor dem Gemeindehaus setzt Peter Lewkowitz seine beiden Kinder ins Auto. Er hat sie aus dem Kindergarten abgeholt, dessen Außengelände kürzlich für 300 000 Euro erneuert wurde. Er ist 36 Jahre, Anwalt, Linkswähler und schockiert. „Ich finde es krass, dass nach 80 Jahren wieder solche Leute ins Parlament einziehen werden.“ Auf die Frage, ob Ausländerfeindlichkeit für die AfD-Wähler hier nicht doch eine Rolle spielt, lacht er. „Natürlich gibt es hier Nazis.“ Dass es hier so gut wie keine Ausländer gibt, spiele dabei keine Rolle. „Das ist ja das Problem des Ostens: Hier gibt es keine Ausländer, deshalb mag man die ja auch nicht. Die Menschen haben eine diffuse Angst vor Fremdem.“ Ändern wird sich seiner Meinung nach durch die Bundestagswahl nichts. „Der Ausgang der Wahl ist doch nur ein Symptom.“ Seit der Wende habe sich das Denken der Menschen nicht verändert.

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