Stundenlange Gebete auf einem winzigen Hocker: Bruder Otto hat einen klar strukturierten Tag mit einigen Pflichten. Foto: Gottfried Stoppel

Bruder Otto feierte als Punk Dosenbierpartys. Jetzt lebt der Einsiedler im Schwarzwald und postet Achtsamkeitsvideos.

Wolfach - Mit Weihrauch beseitigt Bruder Otto die letzten Spuren des Schlagerbusiness. Immer links herum durch die Jakobuskapelle, das silberne Fass zwischen Barockengeln und Altar rhythmisch schwingend. Eine große Katastrophe sei das am Wochenende gewesen, schimpft der 60-Jährige in Mönchskutte, „überall Weihnachtsbäume, Kerzen und mittendrin Stefan Mross“, der mit seinem Team und etlichen Fans ein Musikvideo gedreht habe. „Ich war danach stundenlang auf den Knien, um das Wachs vom Sandsteinboden abzukratzen“, ärgert er sich, „gut, dass die wieder weg sind.“ Für diese Art der Showtime hat der Mann, der in Keuschheit, Armut und Gehorsam lebt, so gar nichts übrig, viel zu kitschig. „Das ist nicht meine Welt“, sagt er entschieden, „ich stehe auf Ska und die Band Madness.“

 

Der in der Nase bohrende Porzellanengel direkt neben der Eingangstür hätte ein Hinweis sein können. Droben in der Klause neben der Kapelle, eine halbe Stunde Waldweg über dem Schwarzwaldort Wolfach wohnt seit ein paar Monaten Jürgen Otto Stahl, kurz Bruder Otto, der neue Eremit. Einer, der auffällt, weil er gerne offen seine Meinung sagt und dabei keinen verschont. Einer, der sich vorgenommen hat, plastikfrei zu leben und auf seiner Homepage unter Öffnungszeiten „bin immer für dich da“ stehen hat. „Ein freundlicher Mann“, heißt es im Ort über ihn, „ein bisschen eigenwillig.“ Er ist der Nachfolger der Karmeliterin Schwester Redempta, die bald drei Jahrzehnte in der Abgeschiedenheit gelebt hat und letztes Jahr dort gestorben ist. Bruder Otto hatte angeboten, sie zu pflegen, aber sie wollte alleine sein, so wie sie es gewohnt war.

Um 5 Uhr schließt er die Kapelle auf

„Lieber Gott, ich will mich entschuldigen, dass die komische Truppe hier drin war“, beendet Bruder Otto die Weihrauchrunde in der Kapelle und blickt hoch zum Schöpfer. Der hängt kunstvoll gearbeitet mit goldener Krone in einer Wolke unter der Holzdecke, in der linken Hand die Welt, die rechte Hand ausgestreckt. „Der zeigt auf uns“, ist sich der Einsiedler sicher und erzählt, dass er jeden Tag gegen 5 Uhr die Holztüre aufschließt und später zum Beten und Zwiegespräch mit Gott in die Kapelle kommt. Dann kann es schon mal vorkommen, dass er lauthals schimpft oder seinem himmlischen Zuhörer einen Witz zum Besten gibt. Meistens ist er dabei allein, außer es schaut ein Wanderer herein. Der Jakobsweg führt draußen vorbei, bei Regen flüchtet sich so mancher ins Trockene oder klingelt an der Klause. „18 50 Kilometer und du bist in Santiago di Compostela.“

Drei Diözesan-Eremiten gehören zum Erzbistum Freiburg – plus Bruder Otto, der etwas andere Einsiedler. Kirchlich anerkannt ist er nicht und will es auch nicht unbedingt sein. „So kann ich besser auf die Kirche schimpfen“, sagt er lachend. Im Kirchenrecht sei die älteste Form des gottgeweihten Lebens nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Kanon 603 aufgenommen worden. Dort steht geschrieben, dass er sich öffentlich in die Hand des Bischofs verpflichten müsste. Ein großer Schritt. Bruder Otto macht lieber viele kleine und will alsbald Erzbischof Stephan Burger in Freiburg einen Besuch abstatten. „Ich habe nicht viel davon, anerkannt zu werden, außer einem feuchten Händedruck und dass ich Berichte schreiben muss“, sagt er. Bruder Otto schätzt seine Unabhängigkeit in hohem Maße.

Mit einer Radikalität für Gott da sein

Die freiwillige Einsamkeit hat ihre Grenzen. Für Bruder Otto bedeutet seine Hinwendung zu Gott keinesfalls eine Abwendung von der Welt – im Gegenteil. Auf Facebook postet er Fotos vom Hauptgebäude mit der hübschen Schindelfassade, wo er in der oberen Etage wohnt und auch ein Gästetrakt vorhanden ist. Er schickt Achtsamkeitsbotschaften ins weltweite Netz und stellt auch mal ein Video von sich auf die Social-Media-Plattform Tiktok. Auf seiner Homepage erklärt er, was einen Eremiten ausmacht: eine klare Berufung, eine gute Konstitution und die Freude am Gebet. Er wolle mit einer gewissen Radikalität für Gott da sein, schreibt er – und geht aber auch ans Handy, wenn andere etwas von ihm wollen. So viel Vernetztheit und Erreichbarkeit muss sein, zumal Bruder Otto darauf angewiesen ist, seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen: als Altenpfleger in einem diakonischen Seniorenheim unten im Ort. Eine 70-Prozent-Stelle, die mehrere Klausner versorgt, 600 Euro von den knapp 1000 Euro knapst er monatlich ab: „Da leben noch zwei Eremiten im Allgäu und Fränkischen mit, ich schicke das Geld an Förster, die es in den Wald tragen.“

Die Miete für die Klause, die er der Diözese Freiburg überweisen muss, arbeitet er durch allerlei Dienstleistungen wieder herein. Er hält die Kapelle sauber, streicht die Bänke, hat neulich mitgeholfen, das Plastikrohr am Austritt der Quelle am Berghang durch ein Birkenrohr zu ersetzen. So unabhängig wie möglich will Bruder Otto leben und hat sich vieles beigebracht. Er näht sein Mönchshabit selbst. Im Garten pflanzt er Gemüse und Kartoffeln, pflückt sich frische Minze für den Tee. Einmal die Woche holt er im Supermarkt Nachschub, der in die Jahre gekommene Renault schafft den Berg immer schlechter. Er könne gut Ersatz brauchen, sagt Bruder Otto und scherzt. „Schreiben Sie: ‚Eremit sucht gebrauchtes Auto, bitte melden.‘“

Früher färbte Jürgen Otto Stahl sein Haar orange

Früher hat Jürgen Otto Stahl wenig übrig gehabt für Askese und Fasten. Früher trug er keinen langen Bart und Kurzhaarschnitt, sondern färbte sein Haar orange und stylte es senkrecht nach oben. „Ich war ein Müsli-Punk in Freiburg mit Ringelshirt und Bäckerhose“, erzählt er und erinnert sich an Dosenbierpartys in besetzten Häusern, die erst bei Sonnenaufgang endeten, obwohl er als Schriftsetzer und „Mädchen für alles“ in einer Druckerei immer früh zur Arbeit musste. „Skins kloppen“ und Musik machen am Kontrabass, das habe ihm damals Spaß gemacht.

Er ging als Offsetdrucker in die Lehre und kreuzte eines Tages den Weg eines japanischen Zen-Meisters, der ihn tief beeindruckte. Aus einem Kurztrip in ein buddhistisches Kloster nach Kyoto wurden fast drei Jahre „harte Lehre“, wie er sagt, der Einstieg in die Spiritualität als Bettelmönch. „Halt’s Maul und meditier“ sei damals der Grundsatz gewesen, erinnert sich Bruder Otto und beschreibt jene Jahre als „göttliche Fügung“.

Unterschlupf bei den Franziskanern

Wieder zurück in Deutschland fand er erst eine neue Heimat bei den Franziskanern im bayrischen Eggenfelden, wo er in den Orden eintrat. Als er in den Missionsdienst sollte, kamen ihm Zweifel. Er begab sich wieder auf die Suche – bis er schließlich Anschluss bei Gleichgesinnten fand: einer bayerischen Klausnervereinigung mit Sitz in Frauenbründl in der Nähe von Regensburg, eine Kongregation von rund einem Dutzend Einsiedler. Für Bruder Otto, der zu seiner eigenen Familie kaum mehr Kontakt hat, ist es endlich ein Ankommen, die Gemeinschaft nahm ihn mit offenen Armen auf.

Er sei ein Engelverehrer, verrät Bruder Otto und führt in sein wichtigstes Zimmer mit Bett, Schreibtisch, Computer, Holzhocker für die vielen Stunden Gebet. An der Wand: Erzengel Michael, eine Steinfigur mit Macken und Fehlern, eine Hand ist abgebrochen. Den habe er vor einem Friedhof auf der Straße gefunden. Bruder Otto zündet eine Kerze vor dem Engel an, dem er sich so verbunden fühlt. Einer, der am Boden lag und gerettet wurde, der alles andere als perfekt ist und dem man das auch ansieht. „Der ist wie ich.“