TDK-SA-X 90-Kassette mit Udo. Foto: StZ

Die Frage, von wo die besten Neujahrsgrüße stammen, muss wohl individuell beantwortet werden. Eine Möglichkeit wäre: Herr Lindenberg auf einer alten Kassette.

Stuttgart - Manchmal hilft die Flucht in die Rituale. An Silvester zum Beispiel, wenn zu prüfen ist, ob die beim Metzger bestellten Leckereien in Pfännchen gepackt (Raclette, an den geraden Jahren) oder auf Spießchen gesteckt (Fondue, an den ungeraden) werden sollten. Die seit 643 Generationen gleich besetzte Jahresverabschiedungsundneujahrbegrüßungsformation hat mittlerweile auch eine Vegetarierin zu verkraften. Jetzt kommt sogar noch ein Missionar dazu, der 13 Jahre in Äthiopien war und heute für Brot für die Welt arbeitet. Wo soll das nur enden?

An Weihnachten war die Nummer einfacher. Es gab Würstchen mit Kartoffelsalat an Heiligabend, italienische Leckereien am ersten Feiertag, Rinderbraten mit Spätzle am zweiten – und danach den obligatorischen „Nightwash“. Das heißt Nachtspülung, was nichts anderes bedeutet, als dass der Herr im Haus den Hausmeister mimt, Wasser einlässt, Spüli dazu gibt, die eingetrockneten Töpfe begutachtet, zurück zum Spülbecken schlendert, mit dem Zeigefinger die Temperatur des Wassers begutachtet, Aua ruft, einen Schluck Wein trinkt und zum Fenster hastet.

„Livehaftig“ – ein altes Lindenberg-Album

Dort steht er. Auf dem Sims. Ein JVC RC-EX 16! Keine Ahnung, was der Code von Buchstaben und Zahlen bedeutet. Sicher ist nur, dass er immer noch funktioniert und in Kombination mit der TDK SA-X 90 auch nach all den Jahren ein Konzert hervorzaubert, das die Kassettengeneration dank des letzten funktionsfähigen Rekorders in ihrem Haushalt, eben jenem JVC RC-EX 16, nach wie vor auswendig mitsingen kann. Es handelt sich um das Doppelalbum „Livehaftig“ von Udo Lindenberg.

Und dann kommt das zweite Lied auf der zweiten Seite. Es wird 2018 vierzig Jahre alt, ist aber aktuell wie eh und je (man denke nur an die Ablehnung der evangelischen Landessysnode, homosexuelle Paare zu segnen). Das Lied heißt „Na und?“:

Ich saß im Café, / ich wollt ’n Text schreiben. / Doch mir fiel überhaupt nichts ein. / Und plötzlich kamst du / und sagst: „Zu zweit geht das besser!“ / Du würdest mir behilflich sein. / Es machte klick, / und wir verstanden uns prima. / Und später zogen wir durch die Gegend. / Es war wildes und tolles Klima. / Wir mochten uns sehr, immer mehr, / und du sagtest: „Ey, irgendwie mag ich dich sehr!“ / Plötzlich denk’ ich: „Moment mal!“ / Und da wurd’ mir erst wieder klar, dass du ein Junge warst . . .

Und jetzt war erst mal wieder alles ganz anders. / Ich war sehr irritiert, / weil so was mir als alten Mädchenaufreißer äußerst selten passiert. / Ich stand da wie ein Spießer, / der sich Sorgen um seine Keuschheit macht. / Und du sagtest: „Es geht doch hier nicht um ’ne schnelle sexuelle Nacht!“ / Wir wurden Freunde immer mehr, und du erzähltest, / dass es manchmal so schwer wär’. / Dass viele Schwule sich noch immer verstecken / auf dem Männerpissoir . . .

Und der Pöbel sagt: „Weg damit!“ / Wie das damals schon, bei diesen Scheiß-Nazis war . . . / Wir wurden Freunde immer mehr, / und ich sagte: „Ey, irgendwie lieb’ ich dich sehr!“ / Und plötzlich denk’ ich: „Moment mal!“ / Und da wurd’ mir wieder klar, dass du ein Junge warst . . . / Na und?

In diesem Sinne: Prosit 1978!