Professor Dr. Wolfgang Simon macht werdenden Müttern Mut, sich auf eine natürliche Geburt einzulassen. Foto: Leonie Hemminger

Wolfgang Simon, Chefarzt für Geburtshilfe am Robert-Bosch-Krankenhaus, erklärt, warum immer mehr Kinder per Kaiserschnitt zur Welt kommen.

Ein Drittel aller Neugeborenen in Baden-Württemberg kommt per Kaiserschnitt zur Welt. Vor 20 Jahren war es noch ein Fünftel. Was sind die Gründe für diese Entwicklung? Sind sie medizinisch oder eher gesellschaftlich verankert? Professor Wolfgang Simon arbeitet seit 19 Jahren in der Qualitätssicherung für Geburtshilfe in Baden-Württemberg und hat die Entwicklung intensiv verfolgt.
Prominente wie Madonna, Victoria Beckham oder Claudia Schiffer haben ihre Kinder ohne medizinische Notwendigkeit per Kaiserschnitt zur Welt gebracht. Schnell, planbar, ohne Wehenschmerzen. Ist dieser Trend auch im „normalen“ Leben angekommen?
Nein, das ist nur eine Marginalerscheinung. Aber es ist schon so, dass sich einiges geändert hat bei der Großzügigkeit mit Kaiserschnitten.

Wie haben sich die Zahlen entwickelt?
Wir hatten 1993/1994 hier im Haus und auch in Baden-Württemberg eine Kaiserschnittrate von 20 Prozent. 2010 waren es 33 Prozent, und die Tendenz ist weiter steigend. Viele Faktoren spielen eine Rolle. Deshalb ist es schwierig, wenn es heißt, es gebe zu viele Kaiserschnitte. Das muss man wirklich hinterfragen.

Welche Faktoren machen einen Kaiserschnitt aus medizinischer Sicht notwendig?
Bei 28 Prozent der Kaiserschnitte geht es dem Kind schlecht. Bei 22 Prozent hatte die Frau zuvor bereits eine Gebärmutteroperation. Das heißt, sie hat entweder früher schon einmal einen Kaiserschnitt gehabt oder es wurden – und das ist neuerdings sehr häufig – Myomen entfernt. Wenn durch Wehen etwas reißen könnte, riskiert man besser erst gar nichts. Hier kommt häufig das Alter der Frau zum Tragen. Grundsätzlich ist es so: Wenn eine Frau mit 40 Jahren ein Kind bekommt und sonst gesund ist, hat sie kein höheres Risiko als eine 20-Jährige. Aber sie hat vielleicht diese oder jene Erkrankung, die sie mit 20 noch nicht hatte.

Gibt es noch weitere Gründe, die einen Kaiserschnitt erforderlich machen?
20 Prozent erfolgen bei Geburtsstillstand. Das nimmt zu, denn wir haben steigende Kindsgewichte. Das durchschnittliche Gewicht bei Jungs liegt bei 3600 Gramm, bei Mädchen bei 3500 Gramm. Das waren vor 20 Jahren 200 Gramm weniger. Das liegt daran, dass die Ernährung und Lebensführung der Mütter anders ist. Sie haben ein großes Gesundheitsbewusstsein. Kein Wunder, dass die Kinder größer werden. Das ist eigentlich eine gute Sache, nur für die Geburt ist es nicht gerade vorteilhaft. Darüber hinaus gibt es Lageanomalien. Fünf Prozent aller Kinder liegen falsch.

Wünschen sich viele Frauen einen Kaiserschnitt, obwohl kein Risiko vorliegt?
Es sind unter zehn Prozent, die im Laufe der Schwangerschaft die Sprache auf diesen Wunsch bringen. Dass jemand kommt und sagt, ich will mein Kind am 11.11. um 11.11 Uhr per Kaiserschnitt, das sind wirklich nur ganz wenige, die meinen, sich in der Öffentlichkeit profilieren zu müssen.

Haben Sie das persönlich schon erlebt?
Ja, sicher.

Wie gehen Sie damit um?
Wenn es in der Zeit liegt, in der das Kind ohnehin kommen soll und ein Kaiserschnitt geplant ist, warum nicht? Ob ich das am 10., 11. oder am 12. mache, ist dann nicht relevant. Aber das sind wirklich wenige. Meistens gibt es andere Gründe, zum Beispiel sind die anderen Kinder nicht versorgt und nur an diesem Tag kann die Oma kommen. Da wir viele amerikanische Patienten haben, ist auch oft ein Grund, dass der Mann nach Afghanistan muss und vorher das Kind noch sehen soll.

Gehen Sie darauf ein?
Dann schaut man sich an, wie groß ist das Kind, gibt es Begleiterkrankungen. Ist das Baby noch relativ unreif, sollten Sie sich hüten, vorher zu gebären. Aber wenn Sie ein gesundes, gut entwickeltes Kind haben, kann man das machen.

Was spielt noch eine Rolle, warum sich Frauen eine operative Geburt wünschen?
Da kommt ein wesentlicher Aspekt hinzu, und zwar ein gesellschaftlicher. Das ist die Risikobereitschaft. Viele Frauen haben Angst davor, ein Risiko für ihr Kind einzugehen. Sie informieren sich heute sehr intensiv über Schwangerschaft und Geburt, ordnen es zeitlich in ihr Leben ein. Es wird so weit wie möglich geplant. Dass bestimmte Dinge trotzdem anders laufen können, das macht Angst. Unsere Aufgabe ist es, diesen Frauen zu sagen: Es gibt so viele gesunde Kräfte, vergessen Sie einfach mal, was alles schief gehen kann. Vertrauen Sie auf die Natur und auf sich selber. Einen Kaiserschnitt können wir jederzeit machen. Sobald es ein Risiko gibt, holen wir das Kind, das dauert keine zehn Minuten. Viele sagen dann, das kann ich wagen.

Es heißt doch auch, dass eine normale Geburt für das Kind wichtig ist?
Ja und nein. Eine Geburt ist etwas höchst traumatisches, was ein Kind glücklicherweise vergisst. Es kann nicht bequem sein, mit unglaublicher Gewalt durch einen engen Kanal gepresst zu werden. Und die ist von der Natur gewollt. Es sollen die Starken übrig bleiben. Der nächste Punkt ist: Das Kind hat massiven Stress. Das stimuliert die Nebenniere und Kortison wird ausgeschüttet. Wenn ein Baby wie früher unter schlechten Bedingungen auf die Welt kommt, hat es damit optimale Überlebenschancen. Aber ein Kind, das bei uns in klimatisierten Räumen geboren wird und sofort auf schonendste Weise behandelt wird, wozu braucht es Stress? Es ist keinerlei Gefahren ausgesetzt. Unter diesen Bedingungen ist es nicht notwendig, ein Kind bei der Geburt maximal zu stressen, um es später lebensfähig zu machen. Und auch die Bedenken, Kaiserschnittkinder würden sich schlechter entwickeln, haben Untersuchungen widerlegt.

Letztlich ist es das Paar, das den Geburtsvorgang bestimmt, und nicht der Arzt?
Richtig. Der Arzt kann aber sagen, unter diesen Bedingungen mache ich es nicht. Wir haben auch schon Leute mit Wunschtermin nach Hause geschickt.

Und im anderen Fall, wenn ein Paar eine normale Geburt möchte und der Arzt dringend zum Kaiserschnitt rät?
Unter Risikoaufklärung mit Unterschrift machen wir das. Diesen Wunsch gibt es sogar häufiger. Meistens nicht von der werdenden Mutter, sondern vom Mann. Das hängt ein bisschen vom Kulturkreis ab. Wenn man sich Mühe gibt, erreicht man aber eigentlich immer das Richtige. Dass ein Kind geschädigt war, weil man sich dem Willen der Eltern unterordnen musste, daran kann ich mich nicht erinnern.

Wie ist es mit den Kosten: Wenn ein Kaiserschnitt nicht zwingend notwendig ist, kommt dann trotzdem die Krankenkasse dafür auf? Er ist schließlich dreifach so teuer.
Geburtshilfe ist für kein Krankenhaus kostendeckend. Sie werden nicht durch Erhöhung der Kaiserschnittrate Kostendeckung erreichen. Das ist ein viel zu überschätztes Argument. Wir überprüfen die Krankenhäuser im Qualitätsmanagement ständig und beobachten, ob ein Haus zu viele Kaiserschnitte, Zangengeburten oder geschädigte Kinder hat. Dann müssen die Krankenhäuser die Einzelfälle darstellen. Wer eine gewisse Zeit schlechte Arbeit macht, bekommt seine Abteilung geschlossen.