An der deutsch-polnischen Grenze kommen derzeit viele Flüchtlinge an. Doch auch im Südwesten haben Bundespolizei und andere Behörden gut zu tun. Foto: dpa/Patrick Pleul

Immer mehr Flüchtlinge kommen nach Deutschland. Dabei spielt nicht nur die Route über Belarus eine Rolle. Auch in Baden-Württemberg greift die Bundespolizei zunehmend Menschen auf, die auf abenteuerlichen Wegen das Land erreichen.

Stuttgart - Die Mitarbeiter eines Ulmer Unternehmens sind schockiert. Als sie den Auflieger eines Lastwagens entladen wollen, springen ihnen plötzlich vier junge Männer entgegen. Panisch fliehen sie – kommen jedoch wenig später zurück. Vermutlich, weil sie herausgefunden haben, in welchem Land sie sich befinden. Denn die Reise war lang und hart. Als die Polizei die 14, 16 und 23 Jahre alten Afghanen befragt, stellt sich heraus, dass sie wohl schon in Rumänien unbemerkt in den Anhänger gestiegen waren.

 

Versteckt im Lkw

Die Episoden, die die für den Grenzschutz in Baden-Württemberg zuständige Bundespolizeidirektion Stuttgart berichtet, ähneln sich – und sie werden seit einigen Monaten immer häufiger. In Crailsheim klettern fünf Jugendliche und junge Männer aus Afghanistan und Pakistan aus einem Lkw, in Schwäbisch Hall fünf, an der Raststätte Aichen an der A 8 sind es gleich sieben. In Serbien sind die blinden Passagiere heimlich zugestiegen, in Rumänien oder in anderen Balkanländern. Tausende Kilometer haben sie zwischen der Ladung versteckt zurückgelegt, um nach Deutschland zu kommen.

Das Flüchtlingsthema ist wegen der Coronapandemie fast in Vergessenheit geraten. Zeitweise kamen im vergangenen Jahr wegen geschlossener Grenzen tatsächlich weniger Menschen. Doch jetzt ziehen die Zahlen an. Dabei zeigt sich, dass beileibe nicht nur die neue Route über Belarus und Polen eine Rolle spielt, sondern auch alte Wege über den Balkan, die Schweiz oder Frankreich in den Südwesten neu belebt werden.

Das äußert sich unter anderem darin, dass in Baden-Württemberg derzeit die Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes voll belegt sind und viele Flüchtlinge an die Stadt- und Landkreise weitergeschickt werden. Doch auch bei der Bundespolizei häufen sich die Zahlen der festgestellten illegalen Einreisen. Von Januar bis Ende September sind es landesweit 4336 gewesen, im selben Vorjahreszeitraum noch 3816. Die Gesamtzahl von 5079 im vergangenen Jahr dürfte deutlich übertroffen werden. Im Großraum Stuttgart haben sich die Zahlen sogar von 86 auf 169 verdoppelt.

Der Anteil aus Afghanistan steigt

Auffällig dabei ist, dass sich die Nationalitäten verändern. Offenbar kommt die Krise in Afghanistan nach Abzug der westlichen Streitkräfte bereits in Deutschland an. „Rund 18 Prozent der unerlaubt eingereisten Personen in den Monaten Januar bis September stammen aus Afghanistan“, sagt ein Sprecher der Bundespolizei unserer Zeitung. Im Vorjahr lag der Anteil noch bei acht Prozent. Auch bei Syrern und Algeriern hat sich der Anteil auf jeweils zehn Prozent erhöht. Pakistan und Tunesien sind ebenfalls mit relativ hohen Zahlen vertreten.

Während sich die Fluchtrouten vor der Coronapandemie in Richtung Schweiz verlagert hatten, zeigt sich jetzt, dass alle bekannten Wege wieder genutzt werden. „Im Rahmen der vorübergehenden Wiedereinführung von Grenzkontrollen sind systematische Kontrollen derzeit ausschließlich an der deutsch-österreichischen Grenze möglich“, sagt der Sprecher. An der deutsch-französischen sowie an der deutsch-schweizerischen Grenze seien systematische Kontrollen gegenwärtig nicht zulässig. Man mache dort deshalb lageangepasste, stichprobenartige Kontrollen im Rahmen der Binnengrenzfahndung, auch Schleierfahndung genannt, im Grenzraum zu Frankreich und zur Schweiz „Dabei arbeiten wir eng mit den benachbarten Sicherheitsbehörden sowie den ausländischen Partnern zusammen“, so der Sprecher.

Hauptroute führt über Frankreich

Im vergangenen Jahr sind noch fast 90 Prozent der illegalen Einreisen aus Frankreich und der Schweiz erfolgt, doch jetzt verschieben sich die Gewichte langsam wieder. Seit Januar kamen 48 Prozent der Gefassten über Frankreich und 34 Prozent über die Schweiz. Die Balkanroute über Österreich legt wieder zu. Etwa die Hälfte der Flüchtlinge überquert die Grenze im Zug, der Rest verteilt sich auf Autos, Busse oder aber die Flughäfen in Stuttgart, Karlsruhe/Baden-Baden und Friedrichshafen. Deren Anteil ist inzwischen auf elf Prozent gestiegen.

Und wer gar keinen anderen Ausweg sieht, versucht es eben als heimlicher Mitfahrer im Lastwagen. Glaubt man Experten, könnte all das nur der Anfang einer möglichen neuen Flüchtlingswelle sein. „Wir passen unsere Maßnahmen tagesaktuell den Entwicklungen an“, heißt es bereits bei der Bundespolizei in Stuttgart.