Der Mythos lebt, wenn es auch hie und da bröckelt. Foto: Wolfgang /Molitor

Im Ruhrgebiet sind Industrie, Bergbau und Fußball über Jahrzehnte eine einzigartige Verbindung eingegangen. Die Städte Schalke, Essen, Dortmund und Bochum erzählen noch heute davon.

Gelsenkirchen/Dortmund - Der Fußball-Gott hat es im Pott nicht leicht. Einerseits muss er alle seine Schäfchen gleich lieb haben und alle Unbill abwenden. Anderseits soll er seine starke Hand über Schalke 04 halten und zugleich, nur ein paar Kilometer weiter, auch der Borussia aus Dortmund Glück bringen. Zehn Gebote sind im Revier gut und schön. Besser sind drei Punkte pro Spiel. Dass sich damit selbst der liebe Gott schwertun könnte, wissen die Fußballfans, ob blau-weiß oder gelb-schwarz. Also helfen sie nach.

 

In St. Joseph am Grilloplatz sind die Schalker stolz auf ihr Kirchenfenster mit dem heiligen Aloisius von Gonzaga. Das gibt es seit 1959, dem Jahr nach dem letzten Deutscher-Meister-Titel. Aloisius ist Schutzpatron für die Jugend. Aber vor allem einer mit blau-weißen Stutzen, Fußballstiefeln und dem Ball am rechten Fleck. Neben den Lilien der Keuschheit. Wenn das dem lieben Gott nicht gefällt, was dann, denken sie sich in Schalke. „Nicht ,auf‘ Schalke“, sagt Olivier Kruschinski, der Schalke-Erklärer. Auf Schalke, das ist die Veltins-Arena. In Schalke, das ist der 19 000 Einwohner große Teil von Gelsenkirchen, früher mal die Stadt der 1000 Feuer. Hier gibt es sie noch, „die Schalke-DNA“, sagt Kruschinski, „Träume, Wünsche, Hoffnungen“.

Wenn du ein echter Kumpel bist...

Willi Lippens, den sie noch nach Jahrzehnten wegen seiner eleganten Bewegungen auf dem Platz „Ente“ rufen, formuliert es unter großen Biergarten-Bäumen auf seiner drei Hektar großen grünen Bottroper Insel mit Hochofen-Blick drastischer: „Im Kohlenpott findest du immer einen, der dir aus der Scheiße hilft – wenn du ein echter Kumpel bist“, sagt der Held von Rot-Weiss Essen, der (mit Intermezzo bei Borussia Dortmund und Kurz-Trip zu den Dallas Tornados) zwischen 1965 und 1981 in 172 Bundesligaspielen für RWE 92 Tore schoss. Rekordspieler und -torschütze. Lippens ist ein begnadeter Erzähler. Der bald 75-Jährige zappelt auf seinem Stuhl, wenn er von seinen Zweikämpfen mit Berti Vogts erzählt, von Freunden wie Hermann Gerland und Buffy Ettmayer. „Ich hab am Anfang 90 Mark im Monat gekriegt, davon 30 für Frau Breitbach. Weil die einmal in der Woche mit dem feuchten Lappen durchs Zimmer gegangen ist“, erzählt Lippens. Einen Berater? „Hab ich nicht gebraucht.“ VIP-Bereich? „War die Kneipe unter der Tribüne.“ Angebote großer Vereine? „Aus ganz Europa kamen sie mit Koffern voller Geld. Aber dann hab ich mit meiner Frau gesprochen und Magenschmerzen bekommen. Und bin in Essen geblieben.“ Lippens lächelt. „Dat hier is eben ne andere Welt.“

Die Sache mit der Romantik

Fußball-Romantik zwischen Dortmund und Gelsenkirchen, Bochum, Essen, Duisburg und Oberhausen. „Wo gibt es in Europa eine Region, wo so viele Clubs bis in die vierte Liga spielen“, fragt Frank Goosen, VfL-Bochum-Fan durch dick und dünn, Kabarettist und eine regionale Fußball-Größe. „Wenn ich meine Heimat zeigen will, dann schlepp ich die Leute immer zum Fußball“, sagt Goosen in der Cafeteria des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund, das Große und Kleine interaktiv in eine Wunderwelt aus Pokalen, Kicker-Helden, Trikot-Träumen und anderen Devotionalien lockt. „Die ganze Stadt lebt mit Fußball“, sagt Markus Bliemetsrieder, der durchs Dortmunder Signal-Iduna-Stadion führt, stolz. „Nur Schalke lebt nur für Schalke“, sagt Kruschinski. „Wenn du im Pott mit Vernunft rangehst“, warnt Goosen, „wird’s schwierig.“

Wobei das mit der Romantik so eine Sache ist. Das „pölen“ auf der Straße und auf Schulhöfen ist Vergangenheit. Jugendmannschaften fehlen. Dass Väter ihre Söhne erst mit ins Stadion nehmen, wenn sie im Stehen pinkeln können? War einmal. Dass die Schalker auf frühe emanzipatorische Rufe nach Frauennamen für die längst zum Denkmal gewordene Glückauf-Kampfbahn den Vorschlag „Ernst-Kuzorra-seine-Frau-ihr-Stadion“ gemacht haben sollen, dass einer auf einem Plakat mit dem Aufruf: „An Gott kommt keiner vorbei“, geschrieben haben könnte: „Außer Libuda!“ – ja, das gehört zum Revier.

Und der liebe Gott?

Kruschinski warnt vor süßlicher Nostalgie. „Fußball war hier auch immer die Chance, auszubrechen.“ Aus ärmlichen Verhältnissen. Ob Kuzorra, Libuda oder Özil. „Die Maloche mit Stahl und Kohle war wirklicher Scheiß.“ Doch die Erinnerungen an den legendären Schalker Markt – wo die Meister-Helden einen Tabakladen hatten (wie Ernst Kuzorra), eine Kneipe (wie Bernie Klodt) oder ein Textilgeschäft (wie Fritz Szepan) – bleiben, auch weil die Spieler damals einen Job haben mussten. Profifußball ist erst seit Beginn der Bundesliga ab 1963 erlaubt.

Was bleibt, ist Fußball als Integrationsmaschine. Nicht wie damals für Kumpel und Stahlkocher aus dem katholischen Polen. Heute spielen Mannschaften aus Guinea oder Afghanistan in den Kreisligen, nennen sich Viktoria und teilen sich den Kunstrasen mit Croatia Bochum. Viktoria-Bochum-Präsident Wolfgang Havranek sagt: „Fußball kennt nur eine Sprache.“ Aber der 67-Jährige weiß, wie viel Geduld Integration durch Kicken braucht. „Es ist nicht so einfach.“

Und der liebe Gott? Stadtführerin Annette Kritzler geht zur Dreifaltigkeitskirche in der Nähe des Borsigplatzes, wo eine katholische Jünglingskameradschaft am 19. Dezember 1909 den Ballsportverein Borussia gründet. „Eine ,Pollackendrehscheibe‘ nannte man den Platz damals“, sagt Kritzler. Neben dem Marienaltar ein Fußball-Figürchen. Kerzen in Mannschaftsstärke. Und ein Gebet: „Dreifaltiger Gott, Dir vertraue ich die Geschicke meines Fußballvereins Borussia Dortmund an. Alle Spieler, Verantwortlichen und Fans.“ An der Fassade der Fankneipe auf der Schalker Meile liest sich das profaner: „Vorstände, Spieler und Trainer gehen – nur Fans sind immer da.“ Die Clubs und ihr Revier: „Nirgendwo ist das Thema Fußball authentischer zu erleben und emotionaler aufgeladen als im Ruhrgebiet“, sagt Axel Biermann, Geschäftsführer von Ruhr Tourismus. „Wir wollen den Fußball und das Ruhrgebiet bis zur EM 2024 zum Topreiseziel für Fußball-Interessierte machen.“

Warum nicht? Zu sehen gibt es genug. Auch einen Friedhof. In Schalke gibt es ihn sogar in Stadionformat. Auf den Rängen blau-weiße Schals, in der Mitte auf gepflegtem Rasen zwischen zwei Toren ein großes blau-weißes S-04-Beet. Spätestens jetzt hat der Fußballgott die Treuesten der Treuen am Hals. Egal, ob sie unter schwarz-gelben, blau- oder rot-weißen Kränzen liegen. Glückauf!

Unterkunft
Zentral gelegen, schick eingerichtet: Hotel Mercure in Bochum, DZ/F ab 93 Euro, www.all.accor.com Ein sehr gutes Preis-Leistungs-Verhältnis bietet das Hotel Carlton in Dortmund, DZ/F ab 45 Euro, www.ffe-hotels.com In einem historischen Gebäude in Essens Stadtmitte liegt der Handelshof, DZ/F ab 50 Euro, www.select-hotels.comElegantes Hotel in einer Wasserburg aus dem 13. Jahrhundert nahe Gelsenkirchen: Schloss Berge, DZ/F ab 115 Euro, www.schloss-berge.de

Essen und Trinken
Typischer Kiosk, heute denkmalgeschützt und Kult: Bergmann Kiosk in Dortmund, www.bergmann-brauerei.de„Ich danke Sie!“ nennen sich der Biergarten und das Restaurant von Willi „Ente“ Lippens in Bottrop. Es gibt auch Fremdenzimmer, Preis auf Anfrage, www.mitten-im-pott.deEchte Bochumer Currywurst, wie von Herbert Grönemeyer besungen, gibt es bei Dönninghaus in Bochum, www.dieechte.de

Aktivitäten
Dortmund Borsigplatz, Führungen mit Annette Kritzler, Dauer ca. 2 Stunden, Preis: 18 Euro pro Person, www.borsigplatz-verfuehrungen.de Schalke-Führungen mit Olivier Kruschinski, Dauer ca. 3 Stunden, Preis: 16,50 Euro pro Person, www.mythosschalke.deStadiontour durch den Signal-Iduna-Park in Dortmund, Preis: ab 9 Euro pro Person, www.bvb.de, www.getyourguide.de Stadionführung durch die Veltins-Arena in Gelsenkirchen, Preis: ab 9 Euro pro Person, www.veltins-arena.de, www.schalke04.de Der Schalke-Friedhof befindet sich auf dem Friedhof in Beckhausen-Sutum, https://schalke-fan-feld.deDeutsches Fußballmuseum in Dortmund, geöffnet außer Montag 10–17 Uhr, Eintritt ab 15 Euro, www.fußballmuseum.de

Allgemeine Informationen
Ruhr Tourismus, www.ruhr-tourismus.de