In seinem berührenden Animationsfilm „Wo ist Anne Frank?“ blickt Ari Folman auf die Holocaust-Gedenkkultur und stellt aktuelle Bezüge her.
Die handgeschriebenen Zeilen aus Anne Franks berühmten Tagebuch erheben sich von den Seiten, tanzen im Raum und formen eine Mädchenfigur: Kitty erwacht zum Leben, die imaginäre Freundin, an die Anne Frank ihre Einträge adressiert hat. Kitty macht sich im Amsterdam der Gegenwart auf die Suche nach ihrer Schöpferin.
Der israelische Filmemacher Ari Folman hat als Pionier animierte Bilder genutzt, um in „Waltz with Bashir“ (2008) das Grauen des Libanon-Krieges zu abstrahieren. Nun nähert er sich der Gefühls- und Gedankenwelt des Holocaustopfers Anne Frank in einem hoch assoziativen, anrührenden Doku-Fiction-Mosaik. Annes „Selbstgespräche“, wegen der ihre Mutter sie tadelt, werden hier Dialoge unter Freundinnen in der Prinsengracht 263 in Amsterdam, wo die Familie sich von 1942 bis 1944 vor den Nazis versteckte. Dort hat Anne Frank als 12- bis 14-Jährige das Tagebuch verfasst. Die Magie ihrer Zeilen wirkt im Trickfilm noch stärker als in allen Realverfilmungen.
Unbändige Sehnsucht nach Leben
Die animierte Anne, Inbegriff eines Sonnenscheins und Wildfangs, ist sich ihrer Wirkung auf Jungs wohl bewusst und erfüllt von einer ungewöhnlichen Lebensweisheit. Folman zeigt sie voller Esprit in einem Stil, der an frankofone Trickfilme erinnert und an die Heldinnen-Epen des japanischen Meisteranimators Hayao Miyazaki. Anne Frank und ihre Fantasie blühen, sie flirtet mit Clark Gable, dessen Karikatur an ihrem Bett hängt, sie fährt auf Skiern durch das Montblanc-Puzzle, das sie zum Geburtstag bekommen hat. Und ihre unbändige Sehnsucht nach Leben bringt sie schier um den Verstand in einer aus den Fugen geratenen Welt, in der sie im Versteck keinen Mucks machen darf.
Kitty fühlt mit Anne, entwickelt aber bald ein Eigenleben über die Traumsequenzen des historischen Kontexts hinaus. Sie hat sich ja in der Gegenwart materialisiert und wundert sich, dass Touristen Schlange stehen vor dem Anne-Frank-Haus, dass eine Brücke, eine Schule, ein Theater und ein Krankenhaus nach ihr benannt sind – und dass zugleich so wenig geblieben ist von Annes Geist und von ihrer humanitären Botschaft. Im Theater korrigiert sie unscharfe Zitate der Anne-Darstellerin – und riskiert Kopf und Kragen. Denn Kittys Existenz ist ans Tagebuch geknüpft; sie muss es also mitnehmen und wird zur gejagten Diebin.
Zuflucht findet sie bei Jugendlichen, die Geflüchtete ohne Bleiberecht versorgen. Die Erinnerungen der kleinen Afrikanerin Ava an den Krieg in ihrer Heimat sind furchteinflößende Schreckensgemälde. Die korrespondieren mit albtraumhaften Schatten der Vergangenheit: Die Nazischergen treten als gleichförmige Masse gesichtsloser Gespenster auf in schwarzen Umhängen mit roten Hakenkreuzen und monströsen Hunden.
Visuelle Details aus dem KZ Bergen-Belsen, in dem Anne Frank 1945 ums Leben kam, erspart Folman den Zuschauern. Stattdessen inszeniert er dunkle Analogien aus dem Totenreich der griechischen Mythologie. Auch so wird schmerzhaft spürbar, wie exemplarisch Annes Schicksal das Ausmaß der barbarischen Verwüstung spiegelt.
Folman schlägt einen Bogen in die Gegenwart
Der Regisseur, dessen Eltern in derselben Woche in Bergen-Belsen ankamen wie die Familie Frank, hinterfragt den Sinn einer Gedenkkultur, die sich vom Inhalt löst und zur reinen Heldenverehrung wird. Und er wagt einen Bogenschlag in die Gegenwart, der auch jüngere Zuschauer ansprechen dürfte. Das allein ist schon eine Großtat.
Wo ist Anne Frank? Israel/NL 2021. Regie: Ari Folman. 99 Minuten. Ab 6 Jahren.