Schaffe, schaffe, Mehrfamilienhäusle baue? Das lindert zwar die Wohnungsnot, hat im dicht besiedelten Raum aber auch seine ökologischen Grenzen. Foto: dpa/Marcus Brandt Foto:  

Im Kreis Esslingen fehlen 10 000 Sozialwohnungen. Mieten und Immobilienpreise steigen. Familien mit mittlerem Einkommen, Alleinerziehende und Ältere haben es schwer. Doch trotz Wohnraummangel wird die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf stetig größer.

Die Aussichten sind gut – für die, die es haben: „Wohnen wird auch künftig eine gefragte Assetklasse bleiben“, heißt es vornehm in dem aktuellen Marktbericht des Maklerkonzerns Engel & Völkers. Bedeutet: Immobilien bleiben eine lukrative Geldanlage. Schön für die Anleger. Aber für die, denen Wohnen kein Asset, sondern eine schlichte Notwendigkeit ist, bleibt die Wohnungsnot. Und die wird in Ballungsräumen immer schlimmer. Dass sinkende Zinsen 2024 den Immobilienmarkt nach einer Kleinflaute wieder angekurbelt haben, ändert daran nichts.

 

Im Kreis Esslingen fehlen laut dem Kreissozialamt geschätzt rund 10 000 Sozialwohnungen. Der Neubau von Wohnungen ohne Sozialbindung bringe nichts „für Wohnungssuchende ohne großen Geldbeutel“, teilt die Landkreis-Sprecherin Andrea Wangner mit. Und: „Frauen- und Kinderschutzhäuser melden uns zurück, dass es kaum möglich sei, Wohnungen für die Frauen und deren Kinder zu finden.“

Wohnungsnot betrifft nicht nur Menschen, die in prekäre Situationen gedrängt werden, sondern weite gesellschaftliche Schichten: Familien mit mittlerem Einkommen, junge Erwachsene in Ausbildung oder Studium, Alleinerziehende, Alleinstehende ohne deutschen Pass und Menschen über 65. Dass sich diese Gruppen schwertun auf dem Mietwohnungsmarkt, ist Konsens. Wohnungsmangel, sagt Gunnar Seelow, Leiter der Stabsstelle Wohnen der Stadt Esslingen, „betrifft die breite Bevölkerung“ – außer diejenigen, die sich das „hochpreisige Segment“ leisten können.

17 Mal mehr Berechtigungsscheine als Wohnungen

Udo Casper, Vorsitzender des Deutschen Mieterbunds Esslingen-Göppingen, kritisiert denn auch, dass „in Esslingen der Sozialwohnungsbestand von 2014 bis 2023 um 48 Prozent auf nur noch 557 Sozialwohnungen geschrumpft“ sei. Für eine angemessene Versorgung müssten zehn Prozent des Wohnungsbestands in der Sozialbindung sein – in Esslingen also 4700 Wohnungen, rechnet Casper vor. 2023 seien in Esslingen 17 Mal so viele Berechtigungsscheine für Sozialwohnungen erteilt worden, wie Wohnungen vergeben werden konnten – nämlich nur 36.

„Wohnen ist für immer mehr Haushalte zum Armutsrisiko geworden“

Die Mieten selbst werden kontinuierlich teurer: Die Durchschnittsmiete liegt laut dem seit 2024 gültigen Esslinger Mietspiegel bei 9,74 Euro pro Quadratmeter – eine Steigerung um 31 Prozent seit 2014. Die tatsächlich bezahlten Marktmieten dürften oftmals darüber liegen. Das Immobilienportal Immoscout geht für das erste Quartal 2025 von einer durchschnittlichen Nettokaltmiete von 12,60 Euro pro Quadratmeter in Esslingen aus – weit über dem deutschen Durchschnitt von 8,84 Euro, im Vergleich der Landkreis-Kommunen im oberen Drittel. Spitze ist dem Portal zufolge Leinfelden-Echterdingen mit 13,68 Euro, am günstigsten ist Lenningen mit 9,94 Euro.

Abgestempelt auf dem Wohnungsmarkt: Vor allem Familien mit mittlerem Einkommen, Alleinerziehende und Ältere haben Schwierigkeiten bei Neuvermietungen. Foto: imago

Casper beklagt, dass aufgrund der Mietpreisentwicklung „Wohnen für immer mehr Haushalte zum Armutsrisiko geworden“ sei. Als Faustregel gelte, sagt der Stabsstellenleiter Seelow, dass ein Haushalt nicht mehr als ein Drittel seines Nettoeinkommens für Wohnkosten aufwenden solle – ob als Mieter oder Eigentümer. Sonst droht Wohnarmut – und davon sei bundesweit bereits jeder dritte Mieterhaushalt betroffen, sagt Caspar unter Verweis auf zwei Studien.

„Einkommen und Preise steigen stärker als die Mieten“

Der Immobilienexperte Jakob Grimm vom Eigentümerverband Haus und Grund nennt Zahlen des Forschungsinstituts Empirica für den Kreis Esslingen. Ihnen zufolge hat sich die Wohnkostenbelastung für Alleinlebende bei einem Umzug von 27,6 Prozent im Jahr 2014 auf 30,9 Prozent im Jahr 2023 erhöht, für Familien von 20,3 auf 21,9 Prozent. Ohne Umzug sei die Belastung jedoch zurückgegangen: von 21,6 auf 20,6 Prozent bei Alleinlebenden, von 16,4 auf 15,2 Prozent bei Familien.

Nahezu im gleichen Zeitraum – 2015 bis 2024 – seien in Baden-Württemberg die Preise für Wohngebäude um 60,6 Prozent gestiegen. Für Esslingen bestätigt Seelow einen „jahrelangen Anstieg der Immobilienpreise“ mit einer leichten Delle zwischen 2022 und 2024 – außer bei Neubauten. Hier sei man mittlerweile bei mehr als 7500 Euro pro Quadratmeter. Verglichen damit, so Haus und Grund, sei der Mietanstieg moderat. Zumal „Nettoeinkommen und Verbraucherpreise stärker als die Mieten gestiegen“ seien, sagt Stefan Beck, der Geschäftsführer von Haus und Grund Esslingen.

Und die Lösung? Der unisono vorgetragene Vorschlag, spiegelbildlich zur angeblichen Ursache des Problems, lautet: bauen, bauen, bauen. Was im Ballungsgebiet naturgemäß an ökologische Grenzen stößt. Gleichwohl: Entbürokratisierung und Lockerung bei Energiestandards fordern die einen, kommunales Engagement für bezahlbaren Neubau-Wohnraum die anderen. Im Bestand wird um ordnungspolitische Maßnahmen – Mietpreisbremsen, Zweckentfremdungsverbote – gekämpft, oder sie werden bekämpft. Jenseits der Lobby-Dualismen gibt es aber noch dritte Faktoren: zum Beispiel die Tatsache, dass laut dem Landratsamt im Kreis Esslingen 5000 Wohnungen leer stehen, weil die Eigentümer sie nicht sanieren können oder wollen.

Wohnfläche pro Kopf mehr als verdoppelt

Die gravierendste Rolle aber spielt das Größer-Wohnen-Phänomen: 2023 betrug die durchschnittliche Wohnfläche pro Person in Baden-Württemberg stolze 46,9 Quadratmeter. Im geburtenstarken Jahr 1960 war sie in der alten Bundesrepublik nicht einmal halb so groß: 20 Quadratmeter.

Größer wohnen

Phänomen
 Trotz Wohnraummangel nimmt paradoxerweise die individuell bewohnte Fläche stetig zu. Standen 1960 in der damaligen Bundesrepublik pro Kopf im Durchschnitt 20 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung, waren es 2023 deutschlandweit 47,5 Quadratmeter. Die größten Flächen bewohnen im Schnitt Menschen über 65.

Ursache
 Überalterung gilt denn auch als eine der Hauptursachen des Größer-Wohnen-Phänomens. Eine ebenfalls wichtige Rolle spielt die zunehmende Zahl der Single-Haushalte sowie – dank der Lohnentwicklung – ein gesteigertes Anspruchsdenken.

Lösung
 Da es sich um ein gesellschaftlich komplexes Thema handelt, gibt es keine einfachen Lösungen. Einen Ansatz verfolgt die Stadt Esslingen mit ihrer Wohnungstauschbörse. Die Bereitschaft älterer Menschen, in eine kleinere und möglichst barrierefreie Wohnung umzuziehen, scheitert allerdings oft an den hohen Angebotsmieten. Die Leute bleiben dann in ihren großen, aber billigeren Wohnungen. Damit beißt sich die Katze in den Schwanz.