Detlev Zander hat den Missbrauchsskandal im Jahr 2014 publik gemacht – am Donnerstag blättert er im Aufklärungsbericht, den es ohne ihn nicht geben würde. Foto: factum/Granville

Schläge, Erniedrigung, Vergewaltigungen: Gewalt war Teil der Erziehung in den Häusern der pietistischen Brüdergemeinde in Korntal. Die Veröffentlichung des Aufklärungsberichts ist ein Meilenstein, aber die Opfer wollen mehr.

Korntal-Münchingen/Stuttgart - Klaus Andersen ist kein Mann großer Worte. Der Vorsteher der pietistischen Brüdergemeinde in Korntal (Kreis Ludwigsburg) ist zurückhaltend und vermittelt den Eindruck: es braucht viel, um ihn aus der Ruhe zu bringen. Am Donnerstag aber wählt Andersen einen pathetischen Ton – wohl wissend, dass seine Worte lange nachhallen werden. „Wir bitten ehrlich und von Herzen um Entschuldigung“, sagt er. „Ich bin schockiert.“

 

Seit 2014 ist bekannt, dass in drei Heimen der Brüdergemeinde in Korntal und in Wilhelmsdorf (Kreis Ravensburg) bis in die 1980er Jahre Kinder missbraucht wurden. Unbekannt war, in welchem Ausmaß sich die Erwachsenen an den ihnen anvertrauten Zöglingen vergangenen haben. Bis zuletzt gab es Menschen, die den Opfern nicht glaubten oder gar Verständnis für die Täter zeigten. Jetzt haben es alle Schwarz auf Weiß: Hunderte Fälle von körperlicher Gewalt, Erniedrigung, sexuellem Missbrauch bis hin zu Vergewaltigungen – die Kinder erlebten ein Martyrium.

„Man hat gewusst von Taten und Tätern.“ Das ist die zentrale Erkenntnis in dem Aufklärungsbericht, den die Gemeinde am Donnerstag in Stuttgart der Öffentlichkeit vorlegte. Lange hatten Opfervertreter dafür gekämpft, dass die Pietisten ihre Vergangenheit aufarbeiten. Der Prozess gestaltete sich schwierig, zahlreiche Opfer fühlten sich nicht ernst genommen. Erst als die ehemalige Richterin Brigitte Baums-Stammberger und der Erziehungswissenschaftler Benno Hafeneger mit der Aufklärung beauftragt wurden, kam die Sache ins Rollen. Die beiden sind es auch, die den 408 Seiten langen Bericht verfasst haben. Hafeneger hat Akten ausgewertet, Baums-Stammberger Interviews mit 105 Betroffenen geführt. Ihre Aufgabe war, die Aussagen auf Plausibilität zu prüfen, und in den allermeisten Fällen kam sie zum Ergebnis, dass sie plausibel sind.

Viele haben Schuld auf sich geladen

Erzieherinnen, Lehrer, der Heimleiter, aber auch ein Arzt, Bäcker und Stallarbeiter haben Schuld auf sich geladen. Mindestens 81 Täter hat das Aufklärer-Duo identifiziert, darunter acht Intensivtäter. Wegen Nichtigkeiten seien Kinder geschlagen worden. Bettnässer wurden systematisch erniedrigt. Wer sich unerlaubt Obst nahm, wurde mit einem Stock oder einem Gummiriemen gefoltert. Manche Kinder mussten Erbrochenes essen oder nachts stundenlang mit ausgestreckten Armen auf den Fluren stehen. 61 Opfer berichteten, dass sie darüber hinaus unter sexueller Gewalt gelitten hätten. „Deutlich tritt ein langjähriger Hausmeister hervor“, heißt es in dem Bericht. 30 Opfer nennen ihn als Täter. Wie hoch die Dunkelziffer ist, weiß niemand. Nach einer Schätzung haben 1500 Kinder die Heime durchlaufen. Es gilt als sicher, dass sich längst nicht alle an der Aufklärung beteiligen – viele aus Scham. Juristisch sind alle Taten verjährt.

Mit einem Betrag zwischen 1000 Euro und 20 000 Euro entschädigt die Gemeinde jene Opfer, deren Schilderungen als plausibel eingestuft wurden, und am Donnerstag dominierte auch der Wille zur Versöhnung. Für die Brüdergemeinde sei dies gewiss „ein rabenschwarzer Tag“, sagte der ehemalige Heimbewohner Detlev Zander, der die Aufarbeitung durch eine Klage im Jahr 2014 angestoßen hatte. Er persönlich aber sei froh, dass er nun den Bericht in der Hand halten könne. „Das ist so etwas wie mein Lebenswerk“, sagte der sichtlich gerührte 56-Jährige: „Für die Betroffenen ist das eine Genugtuung.“ Ihm sei zwar viel von den Missständen bekannt gewesen, aber bei einigen Textpassagen „müssen einem die Tränen kommen“. In gewisser Weise beginne die Aufarbeitung erst jetzt.

Die meisten Taten wurden vertuscht

Zander forderte, dass die Untersuchungen ausgedehnt und auch Vorkommnisse aus der Zeit nach 1990 in den Fokus genommen werden. Gleichwohl dankte er den Aufklärern. In den Gesprächen habe er sich erstmals ernst genommen gefühlt. Außerdem lobte er ausdrücklich das Verhalten von Andersen, der zu allen Zeiten glaubwürdig auf ihn gewirkt habe.

Auch Wolfgang Schulz als Vertreter der Betroffenen ist zufrieden mit dem Ergebnis der Untersuchung. Das Misstrauen der Betroffenen sei groß gewesen, sagte er. Ihn aber habe überzeugt, dass die Opfer in den Prozess eingebunden gewesen seien. Die Aufklärer betonten, dass sie unabhängig von jeder Beeinflussung durch die Brüdergemeinde hätten arbeiten können. Dass die Täter damals derart leichtes Spiel hatten, liegt vor allem daran, dass es kein Schutzkonzept und keine externe Kontrolle gab. „Die Erziehungskultur und deren Praktiken waren bis in die siebziger Jahre systematisch mit Gewalt verbunden“, erläuterte Hafeneger. Grundsätzlich sei alles Handeln von einem negativen Kinderbild geleitet gewesen. Kinder waren demnach Objekte, die gezüchtigt werden mussten.

Dennoch wurden 15 Fälle von sexueller Gewalt aktenkundig. Diese wurden entweder intern aufgearbeitet, also vertuscht, oder es kam zu einer Anzeige. Allerdings gibt es keine Erkenntnisse, wie diese Fälle vor Gericht behandelt wurden. Die Akten sind entweder nicht zugänglich oder längst vernichtet. Sämtliche namentlich bekannten Täter seien nicht mehr in Amt und Würden, versicherte Baums-Stammberger.