Franz Schubert (1797-1828) Foto: dpa

Der Technologieriese Huawei hat einen der berühmtesten Torsi der Musikgeschichte komplettiert: Franz Schuberts „Unvollendete“. Schafft künstliche Intelligenz jetzt Kunst?

Stuttgart - Vielleicht war Franz Schubert einfach fertig. Vielleicht hatte er in den ersten zwei Sätzen seiner Sinfonie in h-Moll schon alles gesagt, was er zu sagen sich vorgenommen hatte. Das meinen die einen. Glaubt man ihnen, so trägt Schuberts demnächst 200 Jahre alte „Unvollendete“ ihren Titel zu Unrecht: weil sie nämlich, obwohl der Komponist Skizzen zu einem Scherzo-Satz hinterließ, eigentlich vollendet ist. Andere Musiker und Musikwissenschaftler bezweifeln diese These, und etliche von ihnen haben sich – meist unter Zuhilfenahme von Zwischenaktmusiken aus Schuberts zeitgleich entstandener „Rosamunde“-Bühnenmusik“ – auch als Bearbeiter und Vervollständiger betätigt. Gänzlich überzeugen konnte bisher indes keine Komplettierung. Und tatsächlich macht Schuberts Werk nicht nur trotz seiner nur zwei Sätze große Wirkung, sondern womöglich gerade ihretwegen: Die „Unvollendete“ ist – neben Mozarts Requiem – der berühmteste Torso der Musikgeschichte.

Aber jetzt. Der chinesische Technologieriese Huawei, zurzeit vor allem seitens der USA der Industriespionage verdächtigt, hat das Unfertige fertig gemacht. Künstliche Intelligenz (KI), so die Firma, habe dies möglich gemacht, präzise gesagt „die Prozessorleistung der Dual-NPU im Huawei Mate 20 Pro“. Letzteres ist übrigens ein Smartphone. Dessen Analyse von Klangfarbe, Tonhöhen und Rhythmen in den ersten zwei Sätzen der Sinfonie diente der KI als Basis für die Erstellung der beiden fehlenden. Stolz verkündete danach der Westeuropa-Präsident von Huawei: „Wir nutzen die Power der KI, um Grenzen zu verschieben und den positiven Einfluss zu zeigen, den Technologie auf die moderne Kultur haben kann.“

Die Folgerung (oder Befürchtung?), künstliche Intelligenz könne jetzt Kunst produzieren, ist so allerdings nicht richtig. Die Errechnung der musikalischen Gestaltungsparameter bei Schubert war nämlich nur der erste Schritt. Der Komponist Lucas Cantor hat letzte Hand angelegt. Er habe, beschrieb er seine Arbeit, „die bereits guten Ansätze der KI“ benutzt, Lücken gefüllt und schließlich auch „sichergestellt, dass das Endprodukt von einem Sinfonieorchester gespielt werden kann“. Wie tröstlich: Kunst braucht Menschen, immer noch. Wie gut die KI gerechnet hat, kann man am 4. Februar in London hören. Dann feiert die vollendete Unvollendete ihre Weltpremiere.

Knapp ein Jahrhundert nach Schuberts Komposition hat Rainer Maria Rilke in seinem Sonett „Archaischer Torso Apollos“ den Zauber des Unvollendeten gepriesen. Es wird unbedingt zu fragen sein, ob in London das Unfertige immer noch so glänzt wie jener verletzte steinerne Gott, den der Dichter beschreibt: „Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“