Den Demonstranten ist der Protest entglitten und die Regierung versagt. Die Studenten müssen einen Gang zurück schalten, kommentiert Christian Gottschalk. Nur so könnte China gesichtswahrend einen Ausweg finden.
Stuttgart - Den absurden Ausbruch von Gewalt in Hongkong, der sich seit Monaten beobachten lässt, kann nur verstehen, wer den Blick in die jüngste Vergangenheit richtet. Immer wieder haben es die Hongkonger in den vergangenen Jahren mit friedlichen Protesten versucht – und aus ihrer Sicht nicht viel damit erreicht. Peking hat seinen Einfluss auf die Sonderverwaltungszone immer weiter ausgedehnt und versucht, das offizielle Motto von einem Land und zwei Systemen so zu interpretieren, dass sich auch die Systeme nicht mehr allzu sehr unterscheiden. Es ist daher schon nachvollziehbar, wenn diejenigen, die das nicht wollen, in ihrer Verzweiflung andere Wege gehen als nur noch Protestmärsche. Mit Pfeil und Bogen auf Polizisten zu schießen, Brandbomben zu werfen und Gewalt als Taktik zu wählen ist aber mit Sicherheit der falsche Weg. So wie es der falsche Weg ist, wenn die Sicherheitskräfte scharf schießen und Menschen festnehmen, an deren Friedfertigkeit kein Zweifel besteht.
Die ganze Angelegenheit verkompliziert sich, weil mittlerweile Studenten ohne Führung und Selbstkritik die Straßen dominieren. Die Vernetzung durch sogenannte soziale Medien und das Versprechen, sich nicht gegenseitig zu kritisieren, hatten zu Beginn der Proteste Sinn ergeben. So war es der Staatsmacht nicht möglich, die Protestierenden kopflos zu machen, indem deren Führer eingesperrt werden – und es wurde vermieden, dass sich die Demonstranten untereinander zerstreiten. Nun aber kann sich das Fehlen einer ordnenden Hand als Nachteil erweisen. Es ist aufseiten der Protestierenden niemand da, die Gewalt zu stoppen.
Soziale Medien wirken als Brandbeschleuniger
Die sozialen Medien wirken zudem wie Brandbeschleuniger, weil sich jeder dort tummelt, wo seine Aktionen Beifall finden. So angefeuert ist es dann fast folgerichtig, auf der Straße noch provozierender zuzuschlagen und die Gegenseite mit kriegerischem Vokabular für die Gewalt verantwortlich zu machen, statt einen Gang zurückzuschalten. Dabei wäre gerade das nötig. Doch den Protestierenden ist ihr Protest aus den Händen geglitten.
Auch der Staatsapparat hat sich völlig verkalkuliert. Sowohl in Hongkong als auch in Peking hatte die Hoffnung bestanden, dass sich die Massen irgendwann einmal auflösen werden. Doch die Hongkonger sind hartnäckiger als gedacht. Bisher hat die Regierungschefin der Sonderverwaltungszone überaus unglücklich agiert. Sie ist zunächst in die Rolle der Starken und Unnachgiebigen geschlüpft. Sie hat sich viel zu lange geweigert, das umstrittene Auslieferungsgesetz zurückzunehmen. Dies geschah erst, als die Forderungen der Demonstranten schon andere Dimensionen angenommen hatten. Nun weigert sich Carrie Lam, die Polizeigewalt untersuchen zu lassen. Ein verhängnisvoller Fehler. Sollte sich Lam doch dazu entschließen, eine Kommission einzusetzen, so würde auch das nicht mehr reichen.
Niemand muss sein Gesicht verlieren
Nun sind ja auch Carrie Lams politische Lehrmeister in Peking nicht gerade bekannt dafür, konstruktive Gespräche mit politisch Andersdenkenden zu führen. Doch genau daran führt kein Weg vorbei. Zumal die Hongkonger Regierung – ob mit oder eher ohne Lam – dies scheinbar unabhängig von Peking beginnen könnte, so dass dort niemand in den Reihen der Partei sein Gesicht verlieren muss.
Vor allem aber sitzen in Peking auch diejenigen, die verhindern können, dass Chinas Polizei und Militär in Hongkong sehr viel härter durchgreift, als dies die einheimischen Sicherheitskräfte derzeit machen. Im Umgang mit Hongkong ist die Kommunistische Partei alles andere als einig. Und eines ist sicher: Weltweite Sympathiekundgebungen für die Demonstranten können denen zu Kopfe steigen, werden die moderaten Kräfte in Peking aber ganz bestimmt nicht stärken.