Ein vom grün-roten Aktionsplan finanziertes Recherche- und Aufklärungsprojekt hat neue, grausame Erkenntnisse über Verbrechen an Homosexuellen zutage gefördert. In Gefängnissen in der Region wurden Männer, die gleichgeschlechtlich liebten, noch bis in die 60er-Jahre kastriert.
Hohenasperg - Neue Erkenntnisse von Historikern belegen, dass es im Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg noch bis in die späten 60er Jahre zu Kastrationen von gleichgeschlechtlich liebenden Männer gekommen ist. Bis 1969 war das Ausleben von Homosexualität in Deutschland uneingeschränkt unter Strafe gestellt. Bis zu fünf Jahre Haft sah das Strafmaß für sogenannte „widernatürliche Unzucht“ vor. Durch den Ritus der sogenannten „freiwilligen Entmannung“ erhofften sich Betroffene Strafmilderung.
Der Historiker Jens Kolata recherchierte am Institut für Ethik und Geschichte an der Universität Tübingen über Verbrechen im Nationalsozialismus. Dass damals Kastrationen vorgenommen wurden – vor allem an Sexualstraftätern – ist historisch keine Neuigkeit. Doch dann stieß Kolata in den Akten auf die Berichte des Psychologen Nikolaus Heim aus dem Jahr 1980. „Ein Zufallsfund“, wie Kolata sagt.
Zwölf Fälle überliefert
In diesen Studien sind zwölf Fälle von Nachuntersuchungen ehemaliger Häftlinge überliefert, die zwischen 1945 und den 60er Jahren kastriert wurden, weil sie homosexuell waren. Alle im Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg bei Ludwigsburg. Das Landesjusitzministerium erklärte auf Anfrage, man würde es überaus bedauern, sollten sich diese Erkenntnisse bestätigen. „Wir wollen das unbedingt aufklären“, sagt Sprecher Steffen Tanneberger.
Der Psychologe Nikolaus Heim berichtet in seiner Studie davon, wie die Betroffenen infolge des operativen Eingriffs über deutliche körperliche Beschwerden klagten: Von Hitzewallungen, Ermüdbarkeit und Gewichtszunahme ist da die Rede.
20 Jahre Haft wegen Homosexualität
Über die seelischen Beschwerden liefert ein anderes Fundstück Aufschluss – eine Audiospur von 1996, die ein Gespräch des ehemaligen TV-Seelsorgers Domian enthält. Sie dokumentiert, wie ein anonymes Kastrations-Opfer, das sich am Telefon „Gustav“ nennt und sein Alter mit 71 angibt, seine leidvollen Erfahrungen schildert. Ihm sei von Behörden eine Entmannung nahegelegt worden – weil er nicht länger in Haft bleiben wollte, habe er eingewilligt.
„20 Jahre in Zuchthäusern verbracht“, sagt „Gustav“ – allein wegen des Auslebens seiner Homosexualität. Bei seiner letzten Anklage als Wiederholungstäter habe die Staatsanwaltschaft ihn als „bevölkerungspolitischen Blindgänger“ bezeichnet, der „nix anderes zu tun hat, als sich in Plüschsesseln herumzulümmeln“. „Gustav“ berichtet, dass er zu Zuchthaus mit Sicherungsverwahrung verurteilt und bis 1968 festgehalten worden sei. „Mir wurde angedroht, dass man mich erst entlässt, wenn ich mich kastrieren lasse.“ Er willigte schließlich ein. Das sei ihm die Freiheit wert gewesen, sagt er. Kurze Zeit später wurde Paragraf 175, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte, stark entschärft. Der Ort des Geschehens: „In der Nähe von Stuttgart“, erzählt er Domian.
Die zwölf Funde aus den Archiven in Tübingen werden jetzt einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das Recherche- und Aufklärungsprojekt „Der Liebe wegen“, das die Verfolgung Homosexueller in unterschiedlichen Epochen dokumentiert, veröffentlicht auch Kolatas Archivfund. „Das sind für uns komplett neue Erkenntnisse“, sagt Ralf Bogen, der federführend bei dem Projekt ist, das aus Mitteln des Aktionsplans der ehemaligen grün-roten Landesregierung finanziert wird. Auch die Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber, die sich mit den Gestapo-Verbrechen im Dritten Reich in Stuttgart beschäftigt, zählt zu den Projektförderern.
Für Forschung bedeutsam
Die Universität Stuttgart hat ebenfalls von den Nachkriegskastrationen erfahren und das Thema in ein groß angelegtes Forschungsprojekt über die Verfolgung sexueller Minderheiten eingegliedert. Martin Cüppers, der Koordinator des Uni-Projekts und wissenschaftliche Leiter der Forschungsstelle in Ludwigsburg für Neuere Geschichte, erwartet dabei „einzigartige Ergebnisse, die für den internationalen Forschungsstand von großer Bedeutung sind.“ Er glaubt, dass das historische Kapitel der Verfolgung von Homosexuellen durch den Staat umgeschrieben werden muss – und schließt auch Folgen für die aktuelle politische Debatte nicht aus, die sich um Entschädigungszahlen dreht.
Das Bundesjustizministerium hatte angekündigt, Homosexuellen, die staatliche Strafverfolgung in der Nachkriegszeit erdulden mussten, zu entschädigen. „Dort weiß man aber noch nicht, dass einige Homosexuelle offenbar auch kastriert wurden“, sagt Cüppers. Erste Quellensichtungen zu dem Thema seien „sehr vielversprechend.“ Konkrete Ergebnisse werde sein Team aber frühestens im Laufe dieses Jahres liefern können, denn die Forscher wollen sämtliche Justiz- und Haftakten des Landesarchivs Baden-Württemberg auch unter dem Aspekt der Kastrationen von Homosexuellen durcharbeiten. Ralf Bogen ist schon jetzt überzeugt, dass Kolatas Funde nur die Spitze des Eisbergs sind. „Ich will, dass das ganze Ausmaß der Verfolgung Homosexueller bekannt wird“, sagt er.