Die Ehe für alle ist ein Fortschritt, aber kein Zeichen für die vollständige gesellschaftliche Akzeptanz der Homosexualität. Foto: dpa

Oft scheint es, als habe sich der Umgang mit homosexuellen Menschen zumindest in westlichen Ländern normalisiert. Die Erlebnisse eines 21-Jährigen aus Stuttgart zeigen jedoch, dass das nicht der Fall ist.

Stuttgart - „Faggots! Go home!“ – Schwuchteln! Geht nach Hause! Der ältere Mann mit langen, etwas zerzausten Haaren sitzt hinter uns im Obergeschoss eines Amsterdamer Coffeeshops. Er schaut uns wütend an und brüllt immer wieder aufs Neue: „Faggots! Go home!“ Ich hätte ihn gerne darauf hingewiesen, dass ich mir seine Gesellschaft auch nicht zwingend gewünscht hatte. In diesem Moment war ich jedoch zu sprachlos und außerdem gerade dabei, meinen Freund zu küssen. Eine Diskussion gestaltete sich daher schwierig.

Auch die anderen Gäste schienen eher damit beschäftigt zu sein, bewusst nicht in unsere Richtung zu schauen. Unter unserem Fensterplatz bot sich der Anblick einer kleinen Gasse der niederländischen Hauptstadt, hinter uns saß ein homophober Mann in einem roten Rollkragenpullover.

Bis dahin war der Urlaub sehr schön gewesen. Wir waren im Park spazieren, besichtigten Museen und ließen es uns gut gehen. In der Stadt war es zwar kalt, aber eine märchenhafte Stimmung. Am Tag zuvor hatte ich den besten Burger meines Lebens gegessen. Ein Coffeeshop in Amsterdam, das war zu diesem Zeitpunkt wohl der letzte Ort, an dem ich erwartet hätte, das erste Mal offen diskriminiert zu werden. Je mehr Zeit verging, desto wütender wurde ich. Was bildet sich der Rollkragenpullover ein, anderen vorzuschreiben zu können, wie sie zu lieben haben?

Nicht nur schwarz oder weiß

Der amerikanische Sexualforscher Alfred Charles Kinsey sagte bereits 1948 zum menschlichen Sexualverhalten: „Man kann die Welt nicht in Schafe und Ziegen einteilen. Nicht alle Dinge sind schwarz oder weiß. (...) Nur der menschliche Geist führt Kategorien ein und versucht, die Tatsachen in getrennte Fächer einzuordnen.“ Für den Mann hinter uns waren wir dementsprechend wohl „Faggots“ – und er der „Normale“. Und dass, obwohl Sexualforscher die menschliche Sexualität schon seit Ende der 1940er-Jahre eher als Spektrum begreifen.

Noch immer scheint der Gedanke weit verbreitet zu sein, dass die Liebe eine Entscheidung ist. Der amerikanische Wissenschaftler Brian Mustanski schrieb 2005, dass die Entstehung von Homosexualität neben Umweltfaktoren zu einem gewissen Anteil von mehreren Erbgut-Abschnitten beeinflusst werde. Niemand sucht sich demnach aus, welche sexuelle Neigung er besitzt. Seine eigene Meinung bildet sich jedoch jeder selbst und entscheidet auch, ob er sie kundtut.

Die Aussage des Rollkragenpullovers verunsichert mich dennoch. Nicht, weil ich mir nicht sicher bin, wie ich darauf reagieren sollte. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand so etwas ohne jegliche Scham öffentlich ausspricht. Habe ich mich vielleicht einfach nur verhört? Vielleicht streitet er im Nachhinein alles ab?

Akzeptanz sexueller Vielfalt umstritten

Ich sollte es besser wissen. Bereits 2015 war ich auf einer Gegendemo zur sogenannten „Demo für Alle“ in Stuttgart. Damals zog ein großer hellblauer Protestzug durch Stuttgart, an dem viele Familien mit Kindern teilnahmen. Sie demonstrierten gegen den Plan der baden-württembergischen Landesregierung, die Akzeptanz sexueller Vielfalt in den Bildungsplan 2016 aufzunehmen. Aus vermeintlicher Sorge um die Kinder. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie die Demonstranten schlecht gelaunt an bunt gekleideten und fröhlichen Gegendemonstranten vorbeizogen, von denen sie mit Konfetti beworfen wurden.

Während meiner Schulzeit in Fellbach war „Schwuchtel“ noch ein geläufiges Schimpfwort. Wer sich zu feminin verhielt oder auch nur den Anschein erweckte, nicht männlich genug zu sein, der musste damit rechnen, schnell in die Defensive zu geraten. Es gab kein einziges Coming-Out in unserer Klassenstufe, an das ich mich erinnern kann. Aber im Nachhinein bin ich mir fast sicher, dass es außer mir einige gab, die ihre nicht mehrheitskonforme Sexualität im Geheimen ausgelebt haben. Ich glaube nicht, dass der neue Bildungsplan zur Entstehung von Homosexualität beigetragen hätte. Vermutlich hätte er nur ein albernes Versteckspiel beendet.

Erst im letzten Jahr Anstieg homophober Delikte

Während ich darüber nachdenke, wird der Rollkragenpullover in der Ecke des Amsterdamer Coffeeshops immer lauter. Ich bemühe mich, ihn zu ignorieren und konzentriere mich auf das mexikanisch anmutende Muster meines Stuhlpolsters. Mein Freund dagegen besitzt eine Fähigkeit, um die ich ihn manchmal beneide: aktiv weghören zu können. Die ganze Szenerie zieht an ihm vorbei und er unterhält sich mit mir, als ob nichts gewesen wäre. Das verunsichert mich zusätzlich und der Gedanke, ich hätte mir alles nur eingebildet, nistet sich in meinem Kopf ein.

Bis 1994 war Homosexualität auch in Deutschland formal noch unter Strafe gestellt. In anderen Ländern steht auf homosexuelle Handlungen noch immer die Todesstrafe. 2017 wurde die deutsche Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare in meinem Freundeskreis daher überschwänglich aufgenommen. Fast so, als sei alles erreicht, was es zu erreichen galt.

Auch in sozialen Netzwerken finden sich immer wieder Kommentare, die eine Notwendigkeit des Christopher Street Days in der heutigen Zeit bezweifeln. Dabei war in Baden-Württemberg erst im vergangenen Jahr ein Anstieg homophober Delikte zu verzeichnen. Und die CDU-Vorsitzende und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer lehnt die Ehe für homosexuelle Paare weiterhin ab, während sie sich auf Kosten intersexueller Menschen amüsiert.

Ekel beim Fernsehabend

Und auch ich habe die Erfahrung gemacht, dass Homosexualität noch lange nicht ausreichend akzeptiert ist, um ein Leben ohne Einschränkungen zu ermöglichen. Während der Schulzeit wagte ich mich im Gespräch mit zwei Freunden in der Nähe von Winnenden zaghaft an das Thema heran. Schnell entwickelte sich dieses Gespräch zu einer Diskussion mit einem der beiden darüber, ob Homosexuelle überhaupt gesellschaftlich gleichgestellt werden sollten. Mein anderer Freund verhielt sich neutral, an ein Outing war danach dennoch vorerst nicht zu denken.

Mein Onkel bekleckerte sich ebenfalls nicht gerade mit Ruhm, als ich kürzlich mit ihm, meiner Tante und meiner Cousine vor dem Fernseher saß. Im Werbeblock kam es bei einem Filmtrailer zu einer Kussszene unter Männern. Er machte keinen Hehl daraus, Mitleid für die Schauspieler zu haben und hörte für die nächsten fünf Minuten nicht damit auf, seinem Ekel freien Lauf zu lassen, denn: „Wer will denn sowas sehen?“ Während ich innerlich brodelte, versuchte ich, äußerlich gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Es ist verdammt anstrengend, im Familienkreis nicht geoutet zu sein. Aber wer spricht schon gerne mit seiner Familie über Sexualität?

Erwischt beim Oralverkehr

Ein guter Stuttgarter Freund von mir traute sich eher unfreiwillig. Nachdem sein erster Freund bereits einige Male „rein freundschaftlich“ bei ihm zuhause war, erwischte seine Mutter beide beim Oralverkehr in seinem Zimmer. Was folgte, war ein großes Geschrei und die Konsequenz, dass er für mehrere Wochen zu Freunden ziehen musste. Mittlerweile hat er wieder guten Kontakt zu seiner Familie. Der Weg dahin war allerdings, wie man nach dieser Szene verstehen kann, alles andere als einfach.

Wir stehen auf. Ein letztes Mal ruft der rote Rollkragenpullover: „Faggots! Go home!“ Dieses Mal habe ich es definitiv deutlich gehört. Mein Freund noch immer nicht. Vielleicht will er es auch einfach nicht hören. Gerne würde ich jetzt schreiben, ich hätte den Mann daraufhin angegrinst und meinen Freund demonstrativ geküsst. Leider entspricht das nicht der Wahrheit. Mit Wut im Bauch haben ich den Laden verlassen.

Gewalt ist noch immer präsent

Ich hoffe, dass ich heute anders reagieren würde. Bis heute bilde ich mir abfällige Blicke ein, verhalte mich oft unauffällig aus Angst davor, wegen meiner Sexualität diskriminiert zu werden oder gar Gewalt zu erfahren. Das mag mancher übertrieben finden, für mich ist es eine Möglichkeit, Konflikte von vornherein zu vermeiden. In der Öffentlichkeit fühle ich mich noch immer gehemmt, meine Sexualität auszuleben, weil ich weiß, was theoretisch passieren könnte.

Natürlich ist es als Nicht-Betroffener leicht gesagt, dass dies ja in unseren Breitengraden nur selten vorkomme. Dennoch, dass es auch in der Mitte der Gesellschaft noch immer Menschen gibt, die nicht akzeptieren können, dass es Menschen gibt, die anders lieben als sie; dass die Gefahr besteht, verbale oder physische Gewalt zu erfahren, nur wegen eines Kusses; dass es Länder gibt, in denen die Todesstrafe droht; dass manche Familien ihre Kinder verstoßen; all das macht ein Outing so unendlich schwer.

Ausleben, was Fakt ist

Auf dem Weg ins Amsterdamer Hostel geht mir nicht aus dem Kopf, was gerade passiert ist. Nicht, weil ich darüber nachdenke, warum niemand eingegriffen hat. Stattdessen gebe ich mir die Schuld, still geblieben zu sein. In den Tagen danach verdränge ich die Szene. Ich möchte mir den Urlaub nicht kaputt machen lassen. In den folgenden Monaten bin ich zwar nervöser als sonst, wenn ich meinen Freund in der Öffentlichkeit küsse. Aber um den roten Rollkragenpullover nicht gewinnen zu lassen, mache ich es erst recht.

Denn niemand sucht sich aus, welche sexuelle Neigung er besitzt. Und größere gesellschaftliche Toleranz sorgt lediglich dafür, dass jeder ausleben kann, was er im Inneren längst ist. Oder wie Franz Kafka sagte: „Die Liebe ist so unproblematisch wie ein Fahrzeug. Problematisch sind nur die Lenker, die Fahrgäste und die Straße“.