In der Holzgerlinger Klemmertstraße 20 und 29 wohnten Johannes Bindcr und Pauline Hermann, bevor sie ermordet wurden. Wo früher die Häuser standen, werden zum Gedenken die Stolpersteine mit Inschriften auf Messingplaketten verlegt. Foto: factum/Weise

Gunter Demnig, Künstler und Initiator der Stolperstein-Aktion, will zum Gedenken an zwei Ermordete Quader im Boden versenken. Eine Ausstellung im Rathaus dokumentiert die Tötungsmaschinerie in Grafeneck.

Holzgerlingen - Lebensgeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg kommen regelmäßig auf die Tagesordnung. Szenische Lesungen in der Mauritiuskirche, Ausstellungen im Heimatmuseum, Zeitzeugenberichte, Dokumentarfilme über die Bombenangriffe, die Zerstörung und den Wiederaufbau – die Stadt Holzgerlingen setzt sich immer wieder ausführlich mit den Geschehnissen und dem Grauen der Nazi-Herrschaft auseinander. Nun werden in der Kommune die ersten beiden Stolpersteine verlegt, die an Euthanasie-Opfer erinnern. Die steinernen Mahnmale werden seit Jahren von dem Künstler und Intitiator der Aktion, Gunter Demnig, ins Straßenpflaster oder in den Asphalt versenkt – vor den Häusern, in denen die Opfer einst lebten. Demnig wird am 21. Februar in Holzgerlingen zur Tat schreiten.

Einstige Euthansieanstalt auf der Alb

Einer der 9,6 Zentimeter mal 9,6 Zentimeter großen Betonsteine mit einer Messingplatte und der Inschrift „Hier wohnte . . .“ ist Johannes Binder gewidmet, der im Alter von 56 Jahren am 24. August 1940 in Grafeneck ermordet wurde. Dort wurde auch Pauline Hermann, geborene Dieterle, umgebracht, für die ebenfalls ein Kleindenkmal im Boden versenkt wird. Als Todesdatum ist der 28. August 1940 überliefert. Sie wurde 46 Jahre alt. Beide sind gebürtige Holzgerlinger. „Die beiden lebten in der Klemmertstraße“, sagt die stellvertretende Hauptamtsleiterin Stella Grasser.

Wie die Nachforschungen in der Gedenkstätte Grafeneck ergaben, sind in der einstigen Euthanasieanstalt auf der Alb während des Dritten Reiches mindestens fünf Holzgerlinger getötet wurden. Unter ihnen auch Fritz Rabel, der im Alter von 19 Jahren im Jahr 1940 dort ums Leben kam, und der 29 Jahre alte Otto Maurer, der im Juni 1940 in der Gaskammer starb. Für sie wie auch für Maria Katharina Mesle, geborene Sauter, soll es zu einem späteren Zeitpunkt einen Gedenkstein geben.

Ausstellung im Rathausfoyer

Das sechste Opfer, dem später ein Stolperstein gewidmet wird, ist Marie Schweizer, die im Alter von 36 Jahren im Jahr 1940 im mittelhessischen Hadamar ermordet wurde. Unter dem Hitler-Regime befand sich dort ein Heil- und Pflegeheim für behinderte Menschen und psychisch Kranke, das als Tötungsanstalt fungierte.

Im Rathausfoyer in Holzgerlingen wurde jüngst eine Ausstellung zum Thema „Grafeneck 1940“ eröffnet. Die Opfer, zumeist geistig Behinderte und Menschen mit psychischen Erkrankungen, stammten aus 48 Heil- und Pflegeeinrichtungen des heutigen Baden-Württembergs, aus Bayern und Nordrhein-Westfalen. Die Opfer – Männer, Frauen und Kinder – wurden auf dem Gelände des Schlosses Grafeneck mit Kohlenmonoxid ermordet. Im Oktober 1939 hatte das Innenministerium in Stuttgart die bereits bestehende Behinderteneinrichtung „für Zwecke des Reichs“ beschlagnahmt und in eine Mordanstalt umgewandelt. „Die Spuren der Täter und der von ihnen entwickelten Tötungsverfahren führen von Grafeneck in die Vernichtungslager im Osten: Belzec, Treblinka, Sobibor und Auschwitz-Birkenau“, erläutern die Holocaust-Forscher in der Ausstellung.

Gedenkstätten-Leiter: NS-Verbrechen wurden tabuisiert

„Jahrzehntelang wollten sich viele nicht erinnern, die NS-Verbrechen wurden verdrängt und tabuisiert“, sagt der Leiter der Gedenkstätte Grafeneck, Thomas Stöckle. Aber jetzt bahne sich ein tief greifender Wandel an. Wie ein Holzgerlinger Zeitzeuge berichtet, habe es in der Stadt Familien gegeben, die lange Zeit kein Interesse gehabt hätten, dass die Namen ihrer von den Nazis ermordeten Angehörigen bekannt werden. In diesem und im nächsten Jahr sollen in Holzgerlingen die weiteren Stolpersteine gelegt werden.

10 600 Opfer bei der Euthanasie-Aktion in Grafeneck

Grafeneck
:   Fünf der Holzgerlinger Opfer sind in Grafeneck bei der sogenannten Euthanasie-Aktion T 4 von den Nazis ermordet worden. Sie mussten den Weg in den als Duschraum getarnten Vergasungsraum antreten. Die systematische Ermordung begann am 18. Januar 1940. In Grafeneck (Gomadingen, Kreis Reutlingen) wurden mehr als 10 600 Menschen getötet. Seit 1990 erinnert eine Gedenkstätte an die Verbrechen. Das 1996 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellte Namens- und Gedenkbuch enthält die Namen der Ermordeten. Von etwa 4000 Opfern ist der Herkunftsort, der Geburts- oder Wohnort bekannt. Die Hingerichteten waren aus Heil- und Pflegeanstalten sowie aus Einrichtungen für Behinderte und psychisch Kranke nach Grafeneck transportiert worden.

Gedenken:
Der Künstler Gunter Demnig wird am 21. Februar um 9 Uhr in der Klemmertstraße in Holzgerlingen auf der Höhe der Hausnummern 20 und 29 die Steine anbringen. Am Vortag hält er in der Mensa des Schönbuch-Gymnasiums um 17 Uhr einen Vortrag mit anschließender Fragerunde.

Stolpersteine:
Bisher gibt es die Stolpersteine nur in wenigen Kreisgemeinden. In Böblingen wurden vor drei Jahren Schüler von drei Böblinger Gymnasien aktiv und verlegten einen Betonquader mit dem Namen von Berta Kettenmann vor dem Haupteingang der Stadtbibliothek. Auch Rudolf Öhler ist in Böblingen ein Stein gewidmet. Über dessen Ermordung im Zuge der Euthanasie hatten ebenfalls Schüler geforscht. In Sindelfingen gibt es vor dem Rathaus und in Leonberg an der KZ-Gedenkstätte am alten Engelbergtunnel Tafeln für die NS-Opfer. In Waldenbuch sind auf dem Marktplatz Steine für August Weinhardt und Katharina Gläser verlegt worden.