Seit 20 Jahren ist die Böblinger Jugendfarm für Iris Wersich ihr Zuhause. Sie ist Vorstandschefin, Therapeutin und Stallarbeiterin und hat die Einrichtung geprägt, geleitet und mit ihrem Team auch schon mal gerettet.
Wie oft sie schon mit der Heugabel im kalten Stall gestanden ist, während man sich in den Böblinger Wohnstuben auf die Weihnachtsbescherung vorbereitet oder übers Silvestermahl hergemacht hat, weiß Iris Wersich nicht mehr so genau. Auch an all die SOS-Einsätze draußen vor den Toren der Stadt kann sie sich nicht mehr erinnern: Das Tier, das am Abend plötzlich eine Kolik erleidet, das Kind, das von den Eltern nicht abgeholt wird und neulich der Verein selbst, der kurz vor der Pleite stand – die Jugendfarm ist ein Abenteuerland. Nicht nur für die Kinder, die dort jedes Jahr ihre Freizeit zwischen Stall, Garten, Basteltisch und Gemeinschaftsküche verbringen. Auch für Iris Wersich, die mit ihrem Team und ihrer Familie die Einrichtung am Laufen hält.
Der erste Eindruck war verheerend
Dass der ehemalige Hof am südlichen Stadtrand einmal ihr zweites Zuhause wird, daran hatte Iris Wersich nicht gedacht, als sie vor 21 Jahren zum ersten Mal das Tor zur Jugendfarm öffnete. Der Sohn der heute 57-Jährigen war es, der sie dorthin gebracht hat, wo die Stadt in die Wiesen übergeht. Der hatte sein Taschengeld zusammengekratzt, um auf der Jugendfarm Reitstunden zu nehmen. Als Iris Wersich sich zum ersten Mal dort umschaute, war sie entsetzt. Geld habe es keins gegeben, dafür jede Menge Verwahrlosung. „Es war schlimm“, sagt Iris Wersich, die sofort anpackte – und als Erstes Heu für die Tiere organisierte.
Aus der spontanen Soforthilfe wurde rasch ein dauerhaftes Engagement. Die Neue schuf für die Älteren einen Teenie-Tag, wurde bald Schriftführerin im Jugendfarm-Verein und gründete eine Elterninitiative, als dieser vor dem Aus stand. Seit 2002 ist Iris Wersich auch erste Vorsitzende und hat mit dem Team nicht nur den Verein über Wasser gehalten: 2003 entstand mit zahlreichen Helfenden ein neues Farmgebäude, einige Jahre später eine neue Heuhalle.
Vom Haushuhn bis zum Alpaka
Die Einrichtung war gerettet. 40 Tiere – vom Huhn, das durchs Gelände gackert, über das Hausschwein bis zu den Alpakas, die auf der Weide unterhalb der Bundesstraße gen Holzgerlingen Gras kauen – leben mittlerweile hier. Betreut, versorgt und beknuddelt von bis zu 4000 Kindern, die pro Jahr die Jugendfarm zu ihrem Revier machen.
Längst ist aus dem Hof ein Ort geworden, der das lebt, was sich Iris Wersich erträumt hatte: „Ein Platz für die Kinder der Stadt, wo sie Kinder sein dürfen.“ Ohne dass jemand schaut, wer sie sind und woher sie kommen. „Die können Kinder herausfinden, was sie machen wollen. Wir geben ihnen Sicherheit und ein zweites Zuhause“, sagt Ines Wersich.
Dass sie dafür nun die Landesehrennadel erhält, dafür ist Iris Wersich dankbar. „Daran hatte ich niemals gedacht“, sagt sie, „ich hab das für die Kinder gemacht.“ Dennoch sei es eine „tolle Auszeichnung“, betont sie, „für die Jugendfarm und meine Familie“.
Beim Streicheln kommen die Sorgen hervor
Schon früh hat Iris Wersich für die Jugendfarm ihren hauptamtlichen Job als Erziehungsbeistand in Diensten des Landkreises von der damaligen Flugzeughalle auf dem Flugfeld auf die Jugendfarm verlagert und sich auf die Tiertherapie spezialisiert. Die gelernte Hotelfachkraft, die aus einer alten Böblinger Wirtsfamilie stammt, erkannte, dass Tiere eine ganz besondere Wirkung auf Kinder haben, die Probleme mit sich herumtragen. Schulklassen mit Jugendlichen aus sozial schwierigen Verhältnissen, Kinder, deren Eltern bei der Erziehung kapituliert haben, oder Kinder mit Handicap sind seither regelmäßige Gäste auf dem Areal. Dort treffen sie auf Pony „Macho“, das am Liebsten mit Trisomie-Kindern arbeitet, und schon auch mal zeigt, dass es Aggression nicht gut findet, oder auf „Obelix“, den Kater, der sich stundenlang streicheln lässt und vielen Kindern damit ein Selbstwertgefühl vermittelt, das ihnen das Leben nicht bietet. „Die Tiere spiegeln die Kinder“, sagt Iris Wersich. Oftmals erzählten diese ihren vierbeinigen Gefährten beim Spielen, Streicheln oder Stall ausmisten von ihrem Kummer und ihren Sorgen. Nöte, von denen sonst niemand erfahren würde.
Diese Arbeit hat sich mittlerweile herumgesprochen. Iris Wersich spricht von einem „Alleinstellungsmerkmal“, das die Farm im weiten Umkreis zu bieten habe. Die Nachfrage sei riesig – vor allem seit Corona vieles in den Kinderleben durcheinander gebracht hat.
Klappt der Rückzug?
Längst ist diese Arbeit nicht mehr mit dem Einsatz eines Privatlebens, dem Durchsetzungsvermögen und der gradlinigen Art machbar, mit der Iris Wersich für ihre Jugendfarm kämpft. Seit einigen Jahren hat sie zwei Tierpfleger und eine pädagogische Kraft zur Seite. Spätestens mit der Pandemie wurde es dann knapp für die Farm: Die Kinder blieben weg, Feste und Feiern von Firmen und Familien aus, die Sponsoren wurden zurückhaltender. Plötzlich gelang es der Jugendfarm nicht mehr, den jährlichen Abmangel selbst zu stemmen.
Die Pleite drohte, auf Iris Wersich und ihr Team wartete der zweite Rettungseinsatz: Ein Brandbrief überzeugte den Böblinger Gemeinderat, zunächst bis 2024 in die Bresche zu springen. Der Anspruch, der Iris Wersich seit 20 Jahren leitet und motiviert, ist damit vorerst gerettet: „Jedes Kind muss die Chance haben, hierher zukommen.“ Allerdings weiß sie auch eines: „Ohne Stadt hat die Farm keine Zukunft.“
Ohne Ines Wersich jedoch schon. Auch wenn sich das niemand so richtig vorstellen kann. „Du bist die Jugendfarm-Mama" sagen die Kinder zu ihr, „Sie sind doch die Frau von der Jugendfarm“, die Menschen, die sei beim Einkaufen trifft. In absehbarer Zeit aber soll das anders werden. 2024 wird sich Iris Wersich zurückziehen. Einfach mal so weg.
Ob das klappt? „Wenn ich das sage, kriege ich das hin“ erwidert Iris Wersich und berichtet: Erste Versuche, ein Wochenende lang in der Familie nicht über die Jugendfarm zu sprechen wurden bereits unternommen.