Szene aus einer abgedrehten Fantasie über ein Stück Musiktheater: Marthaler sieht Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“. Foto:  

Romantische Oper? Komische Oper? Beides will Jacques Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“ sein, und beides ist am Samstag in Stuttgart nicht zu erleben. Stattdessen gibt es einen surrealen, melancholischen Abend mit mehr Marthaler als Offenbach.

Was macht der Mann im weißen Kittel da bloß? Auf einem Podest posiert eine nackte Frau, vor ihr drei Gestalten vor Staffeleien, und von links nach rechts führt der Mann mit wilden Gesten eine Kolonne merkwürdiger Besucher durch den Saal. Oho, aha!, scheint die Schar der Neugierigen zu denken, hier gilt’s der Kunst! Oho, aha!, scheint der Regisseur Christoph Marthaler gedacht zu haben, als er „Hoffmanns Erzählungen“ im Mai 2014 für das Teatro Real in Madrid in Anna Viebrocks vieldimensionaler Bühnenbild-Tristesse in Bewegung setzte, hier gilt’s einer Kunst, die einer Kunst gilt, und wenn ich als Künstler Szenen zu einem Opern-Kunst-Stück erfinde, das einer anderen Kunst (nämlich derjenigen des Schriftstellers und Komponisten E.T.A. Hoffmann) den Spiegel vorhält, dann ergibt das ein dreifach verspiegeltes, also geradezu aberwitzig verdrehtes Spiel! So sieht der Abend, der in Koproduktion mit der Oper Stuttgart entstand und hier am Samstag seine uneingeschränkt umjubelte Premiere feierte, dann auch aus: mehr wie eine ferne, ziemlich abgedrehte Fantasie über ein Stück Musiktheater denn wie dessen Deutung.

Das fängt gut an. Im Ambiente einer großen Madrider Kunstschule schiebt der Mann im weißen Kittel, nachdem die Besucher (der von Christoph Heil sehr genau einstudierte Opernchor) sich niedergelassen haben, Gliedmaßen aus Plastik im Karren über die Bühne. Später wird daraus die Puppe Olympia werden, deren hohe Töne und Verzierungen Ana Durlovski so perfekt, so schön und so wirkungsvoll singt, dass sie dafür unter allen Sängern den lautesten Beifall erhält. Dass der Marthaler-Getreue Graham F. Valentine – er ist der Mann im weißen Kittel – den Spalanzani, den er spielt, später auch singen wird, hätte allerdings nicht unbedingt sein müssen.

Sophie Marilley singt mit großer Hingabe und vielen schönen Farben

Im Sessel links sitzt – Lederjacke, Sonnenbrille – in dunklem Grimm und mit zuckenden Grimassen der ewige Böse: Alex Esposito, der die Rolle des Lindorf, des Coppelius, des Mirakel und des Dapertutto spielt und mit seinem geschmeidig-dunklen Bariton auch sängerisch exzellent ausfüllt. Links hinten an der Bar agiert flink Torsten Hofmann, der zwischendurch den wechselnden Aktmodellen Tüchlein zum Schweißabwischen reicht und mit seinem schlanken Tenor eine ideale Besetzung für Offenbachs Dienerfiguren abgibt.

Hinzu kommt die mit Hingabe und schönen Farben singende Sophie Marilley als Muse. Die Melancholie, die diese Figur bei Marthaler umweht, gibt maßgeblich Farbe und Stimmung vor. Spätestens als der Titelheld im weißen Bademantel und mit nervös zuckendem Augenlid auf die Bühne kommt, ist klar, dass das Komische der Oper an diesem Abend unrettbar verloren ist. Stattdessen gibt es Skurriles, Groteskes, Surreales. Man kann höchstens leise schmunzeln, wenn sich Tänzer als Kellner mit Tabletts in der Hand in sich selbst und umeinander herum verrenken oder wenn Schlemihl (Eric Ander), nachdem Hoffmann, jetzt ganz im Klamauk-Modus, ihm eine Weinflasche über dem Kopf zerdeppert hat, in einem zerberstenden Billardtisch seine ewige Ruhe findet. Auch die zum Landpomeränzchen gestylte Olympia ist putzig. Und Anna Viebrocks Kostüm-Spielereien (Frauen mit Bärten, Batman, ein Mann mit Brautschleier) haben ebenfalls etwas durchaus Lustiges.