Das Ballett „Schwanensee“, sagt der Choreograf Hofesh Shechter, habe mit der Realität in Israel nichts zu tun. Trotzdem wirft er für Gauthier Dance einen neuen Blick auf den Klassiker
Stuttgart - Sein Name hat sich dem Publikum von Gauthier Dance eingeprägt. Hofesh Shechter sorgte mit seinem Männerstück „Uprising“ für einen fulminanten Auftakt des dreiteiligen Abends „Mega Israel“. Und auch das „Grand Finale“, dieser verstörende Totentanz, den der israelische Choreograf mit seiner eigenen Kompanie im Rahmen des zweiten Colours-Festivals präsentierte, bleibt unvergessen.
Vor Kurzem war Shechter, der mit seiner Frau und zwei Töchtern in London lebt, wieder in Stuttgart bei Gauthier Dance. Als einer von vier Choreografen, die im Juni den Uraufführungsabend „Swan Lakes“ mit einer aktuellen Sicht auf den vielleicht größten Hit der Ballettgeschichte bestücken werden, bereitete er sein Werk vor. Bereits nach einem Arbeitstag in den Proberäumen von Gauthier Dance konnten Besucher beim Blick durchs Fenster die Vitalität spüren, die Shechters Tanzsprache zu eigen ist.
Menschlichkeit zählt
„Ich probiere nur aus, welche Energie im Raum ist“, hält Hofesh Shechter den Ball flach. Sein Ziel am Ende der Woche sei, eine Besetzung auszuwählen und, wie er sagt, „vielleicht spielerisch das Herz des Stücks zu entdecken“, das dann im Mai entstehen soll. Auf die Frage, ob es ihm schwerfalle, Tänzern abzusagen, kontert der Choreograf mit der Verantwortung des Künstlers: „Das ist nicht einfach. Aber das Stück steht im Vordergrund, und das muss gut werden. Mitgefühl mit den Tänzern zu haben macht die Arbeit nicht besser. Aber ich bin ein Choreograf, der ihnen in die Augen schaut und nicht per Zettel an der Wand mitteilt, wer drin, wer draußen ist.“
Drin bleibt, wer neben tänzerischer Qualität eine Menschlichkeit ins Spiel bringt, die den Choreografen bewegt. Er selbst arbeitet gern mit fremden Tänzern, mit anderen Kompanien. „Ich mache gern neue Erfahrungen. Das holt mich aus der Normalität heraus“, sagt Shechter. „Schwanensee“ ist garantiert eine solche Herausforderung, die kühle Eleganz des klassischen Balletts mit ihrer klaren Linienführung wirkt wie ein Gegenpol zu den kraftvollen, eruptiven Gruppenszenen Shechters. „Mich interessiert, wie ich die Elemente, die mich an diesem Klassiker inspirieren, auf eine überraschende Art drehen kann. Ich will auf die Werte eingehen, die diese Geschichte transportiert. In ihr geht es um Perfektion, Schönheit, aber auch um deren Zerstörung.“
Shechter mag das Verbindende des Tanzens
Eine komplette „Schwanensee“-Aufführung hat Hofesh Shechter nie erlebt. „Ich habe Teile daraus während meiner Ausbildung an der Tanzakademie in Jerusalem gesehen; aber die Sprache dieses Klassikers hat mich nicht erreicht“, so Shechter. „Zu der Realität, in der ich in Israel aufgewachsen bin, hatte sie keinerlei Beziehung.“ Tanz als Unterhaltung für die Upperclass? Damit hat Hofesh Shechters Vokabular tatsächlich nichts zu tun. Er, der ursprünglich vom Folklore-Tanz komme und als Tänzer bei der Batsheva Dance Company eine große Offenheit erfahren habe, könne eher an die spirituellen Kräfte eines Rituals andocken als ans klassische Ballett, sagt er. „Ich mag die soziale Kraft des Tanzes, der Menschen zusammenbringen kann, der in der gemeinsamen Bewegung spüren lässt, wo man herkommt.“ Und: „Mich interessiert die Frage nach Freiheit, ich will bewegt werden“, sagt Shechter und verweist auf den Umgang mit dem Tod in „Grand Finale“, wo vermeintliche Leichen zu Tanzpartnern werden.
Ist das lustig oder respektlos, ist das poetisch oder schockierend, berührend oder verstörend, tragisch oder hoffnungsvoll? „Der Tod ist etwas, das wir Menschen nie verstehen werden“, sagt Hofesh Shechter, und der Tanz als allein auf den Körper zurückgeworfene Kunst ist für ihn prädestiniert dafür, Dinge zu verhandeln, über die wir nicht sprechen können.
Immer wieder werden in „Grand Finale“ schlaffe Tänzerkörper wie Leichen herbei- und weggeschleift, einmal wird einer als Schlenkerpuppe zum Spielball der anderen, schnappen sich vier Männer leblose Frauenleiber zum Pas de deux. Wir leben in einer Zeit des Terrors, der auch Tote instrumentalisiert. Der Israeli Hofesh Shechter kennt die Wunden und legt den Finger hinein, er zeigt Schlachtfelder und zerborstene Mauerteile, dichten Nebel, den die Sonne kaum noch durchdringt. Nicht Antworten zu formulieren, sondern Fragen zu stellen ist Shechters Ansatz. Auf seine „Schwanensee“-Befragung darf man also durchaus gespannt sein.
Info: Shechter ist Tänzer, Choreograf, Musiker
Shechters eigene, 2008 gegründete Kompanie umfasst 17 Tänzer, zehn davon touren gerade mit „Grand Finale“ um die Welt; dazu kommen zehn Tänzer in einer Art Juniorkompanie. Die Arbeit mit dem Star der Londoner Szene ist begehrt . Auch für Ensembles wie das Nederlands Dans Theater und das Royal Ballet hat der 1975 in Jerusalem Geborene choreografiert. Für das Royal Ballet erarbeitete Shechter, der neben seiner Karriere als Tänzer Schlagzeug studierte, 2015 das Stück „Untouchable“ und komponierte auch die Musik dazu.
„Swan Lakes“ hat am 18. Juni bei Gauthier Dance im Theaterhaus Premiere und versammelt Uraufführungen von Marie Chouinard, Marco Goecke, Hofesh Shechter und Cayetano Soto.