Konrad Kujau mit einem Stern-Exemplar von 1983, auf dem eines seiner erfundenen Tagebücher abgebildet ist – darauf auch das falsche Initial F. H. statt. A. H. Foto: dpa/Ingo Röhrbein

40 Jahre nach dem Skandal um die gefälschten Hitler-Tagebücher veröffentlicht der NDR alle 60 Bände. Welche Rolle spielten die Kontakte des Fälschers in die rechtsextreme Szene in Baden-Württemberg?

Die Veröffentlichung der „Hitler-Tagebücher“ war groß angekündigt. Die Geschichte des Nationalsozialismus müsse umgeschrieben werden, verbreitete der „Stern“ damals, 1983, stolz. Für 9,3 Millionen Mark (4,8 Millionen Euro) hatte das Magazin die 60 Bände erworben. Woche für Woche wurde präsentiert, was der „Führer“ sich angeblich im Geheimen von der Seele geschrieben hatte. Doch dann platzte die Blase. Ein Testat des Bundeskriminalamts stellte klar: Die Bände waren frei erfunden, in manchen Passagen bestenfalls gut recherchiert („Morgen große Rede vor dem Pferdezüchterverband“) und in Hitlers Handschrift gebracht von dem Kunstfälscher Konrad Kujau. Es war der größte Medienskandal in der alten Bundesrepublik.

Was der Stern damals abbrach, holt der Norddeutsche Rundfunk jetzt mit 40-jähriger Verspätung nach. Am Donnerstag, 18 Uhr, stellte er auf ndr.de die kompletten 60 Bände online, lesbar und recherchierbar gemacht mit Hilfe einer Künstlichen Intelligenz. Bisher lagerten die Originale gut verwahrt in einem Safe bei Gruner + Jahr, um „Missbrauch zu verhindern“, wie es hieß. Dort löste die NDR-Ankündigung Aufregung aus. Der Sender bediente sich offenbar der mehrfach kursierenden Kopien. Unter anderem sind die 60 Tagebücher im „Kujau-Kabinett“, einem Privatmuseum in Bietigheim-Bissingen einsehbar, allerdings überwiegend noch in altdeutscher Handschrift.

Kujau erfindet einen „positiven Hitler“

Und nun heißt es wieder, die Geschichte müsse umgeschrieben werden, diesmal aber die des Konrad Kujau. Der später zu viereinhalb Jahren Haft verurteilte, zuletzt in Bietigheim-Bissingen wohnhafte und vor 22 Jahren gestorbene Kunstfälscher wird gerne als eine Art Michael Kohlhaas interpretiert, der mit Bauernschläue den selbstverliebten Medienbetrieb im Allgemeinen und den „Stern“ im Besonderen lächerlich gemacht habe. Doch der Berliner Politikwissenschaftler Hajo Funke, der im Auftrag des NDR die Veröffentlichung wissenschaftlich begleitet hat, kommt zu einem anderen Ergebnis. Er sieht die Tagebücher als Mittel der Holocaust-Leugnung. „Sie wollten Hitler von den schlimmsten Verbrechen der Nazis freisprechen.“ Ähnlich drückt es die Historikerin Heike Görtemaker aus, die ebenfalls dem wissenschaftlichen Beirat angehörte. Kujau habe „eine positive Hitler-Figur“ erfunden.

Bisher fanden vor allem die kuriosen, fast onkelhaften Passagen Aufmerksamkeit – und wurden genüsslich auch in Helmut-Dietls „Schtonk!“-Film zitiert. „Die übermenschlichen Anstrengungen der letzten Zeit verursachen mir Blähungen im Darmbereich, und Eva sagt, ich habe Mundgeruch“, ließ Kujau den „Führer“ etwa klagen. Funke und Görtemaker stellen gänzlich andere Passagen in den Vordergrund. So schreibe der vermeintliche Hitler am 31. Juli, man solle die Juden zur schnellen Auswanderung bewegen. Oder am 20. Januar 1942: „Erwarte die Meldungen von der Konferenz über die Judenfrage. Wir müssen einen Ort im Osten finden, wo sich diese Juden selbst ernähren können.“ Gemeint war die Wannsee-Konferenz, bei der die Vernichtung der gesamten jüdischen Bevölkerung Europas organisiert wurde. Der Eintrag zeige die ganze Böswilligkeit der Tagebücher.

Verbindungen in die Stuttgarter Neonazi-Szene

Für die Wissenschaftler steht fest, dass Kujau wesentlich tiefer in die rechtsradikale Szene verwoben war, als bisher bekannt. So habe er Kontakte zu dem Altnazi Michael Kühnen gehabt, Chef der später verbotenen Aktionsfront nationaler Aktivisten. Verbürgt sind Treffen mit dessen Pressesprecher Lothar Zaulich. Am 13. Oktober 1983 fand bei ihm eine Hausdurchsuchung statt. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart verdächtigte ihn in der Sache als Komplizen. Obwohl die Polizei offenbar Hinweise auf eine enge Zusammenarbeit fand, wurden die Ermittlungen gegen Zaulich im März 1984 eingestellt.

Handelte es sich bei den Tagebüchern am Ende um eine große rechtsextreme Verschwörung? Marc-Oliver Boger, Kunsthändler und Leiter des Kujau-Kabinetts in Bietigheim-Bissingen, ist skeptisch. Kujau habe als Grundlage für seine Fälschungsarbeit eine riesige Auswahl an Naziliteratur gehortet. „Er war schon im Stande, das alles allein zu verfassen.“ Für ihn bleibe es dabei: Kujau habe als Alleintäter gehandelt. Und auch wenn Kujau später einmal als Stuttgarter OB und für die Autofahrerpartei kandidiert habe, sei er doch eher unpolitisch gewesen. Heißt: Es ging ihm weniger um die Ideologie als vielmehr ums Geld.