Werner Burkhardt (kniend) hat seine Geschosskugel von Peter Rückert zurückbekommen. Foto: factum/Granville

Greifbare Geschichte: Eine uralte Kanonenkugel aus der Belagerung des Hohenaspergs im Jahr 1519, die ein Rentner als Schulkind gefunden hatte, ist groß herausgekommen – im Kontext einer Albrecht-Dürer-Zeichnung.

Asperg - Beigegrau, höckerig, leicht angemoost: Auf den ersten Blick wirkt die Kugel aus Kalkstein, die der Sachsenheimer Rentner Werner Burkhardt beinahe zärtlich mit beiden Händen umfasst, nicht sonderlich spektakulär. Doch für Peter Rückert, Archivdirektor im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, ist die Kugel ein Knüller. Und dafür, dass sie fast geschlagene 450 Jahre lang im Dickicht des bewaldeten Hohenasperg-Nordhangs ihr Dasein fristete, legte sie zuletzt eine erstaunliche Karriere hin: Als eines der Star-Objekte der Ausstellung „Freiheit, Wahrheit, Evangelium – Reformation in Württemberg“ im Kunstgebäude Stuttgart.

Ein Zeitsprung. Anno 1964 durchstreift der Schulbub Werner Burkhardt mit Vorliebe die Hänge der Festung Hohenasperg. Seine Fantasie ist durch den Geschichtsunterricht angestachelt, dort ging es um die Belagerung der Feste durch den Schwäbischen Bund im Jahr 1519. Das Bündnis freier Reichsstädte, die sich gegen die aggressive Expansionspolitik des Herzogs Ulrich von Württemberg zur Wehr setzten und ihn final aus dem Land vertrieben, hatte damals Stellung unterhalb der Festung bezogen, sie beschossen und eingenommen.

Wieder und wieder durchstreifte der Junge die Hänge um den Hohenasperg

Belagerungs- und Kanonade-Szenarien schwirren dem Schüler durch den Kopf. „Ich habe immer wieder in Laub und Gebüsch gesucht, ob ich etwas finde“, sagt Burkhardt heute. Und schließlich findet er tatsächlich etwas: Eine verwitterte Kugel. Für den Jungen, der sein Glück kaum fassen kann, steht außer Zweifel: Er hat ein steinernes Zeugnis der Kanonade vom Mai 1519 entdeckt.

Nun kommt ein Großer der deutschen Kunstgeschichte ins Spiel: Albrecht Dürer. Der Renaissance-Künstler – von der Nachwelt für seine Gemälde, Holzschnitte und Kupferstiche bewundert – hielt die Belagerung des Hohenaspergs in einer Federzeichnung fest. „Kaum zu glauben, dass ausgerechnet Dürer quasi als Kriegsberichterstatter hier unterwegs war“, sagt Peter Rückert. Es sei zwar nicht klar, ob Dürer die Belagerung unmittelbar miterlebt oder sie sich kurz danach im Detail habe beschreiben lassen. Mit eigenen Augen gesehen habe er die Örtlichkeiten auf jeden Fall, das zeigten auch die akkuraten Wiedergaben von Grüningen (Markgröningen) und Pytika (Bietigheim). Dürer skizziert Feldlager, Geschützstände und Soldaten und zeigt im Bildvordergrund Kanonen, die Kugeln in Richtung Berg und Festung abfeuern. „Herzog Ulrich“, sagt Rückert mit Blick auf eine Kopie der Skizze, „hatte sein Heil da schon in der Flucht gesucht.“

Die Kugel will Werner Burkhardt jetzt dem Landesmuseum überlassen

Als Werner Burkhardt im vergangenen Sommer von der geplanten Reformations-Ausstellung erfährt, kommt ihm sein seit mehr als 40 Jahren gehüteter Fund in den Sinn. Er kontaktiert den Archivar. Der hat zu diesem Zeitpunkt gerade Dürers Zeichnung als riesige Wandtapete vergrößern lassen. Über den Anruf aus Sachsenheim ist der Experte, gelinde gesagt, verblüfft. „Eine Original-Kanonenkugel von der Belagerung? Kann ich das glauben?“, fragt er sich.

Rückerts Rücksprache mit einem Militärhistoriker ergibt: Die Kugel stammt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tatsächlich aus der Belagerung 1519. „Bis kurz vor 1500 hatte man noch nicht mit solchen Geschützkugeln geschossen, und später verwendete man Blei und Eisen“, erklärt Rückert. Auch die Größe und das Material des Zehnpfünders passten in die Epoche.

Der beglückte Kurator – „das war der größte Zufall der ganzen Ausstellung“ – lässt noch flugs eine Vitrine bauen und platziert die Kugel so vor der Dürer-Tapete, dass Besucher den Eindruck haben, sie flöge im Gleichklang mit den von Dürer gezeichneten Geschossen Richtung Festung. Oder darüber hinaus, so wie es wohl auch in Wirklichkeit geschah. So erklären sich Rückert und Burkhardt jedenfalls, dass sie Jahrhunderte später am rückseitig gelegenen Abhang im Unterholz schlummerte.

Die Ausstellung des Landesarchivs, in der Burkhardts Kugel zu den Hinguckern zählte, ging dieser Tage zu Ende. Jetzt hat der Archivdirektor dem Besitzer das geschichtsträchtige Stück zurückgegeben, am Originalschauplatz vor der trutzigen Festung Hohenasperg. Werner Burkhardt indes hat sich durchgerungen, sein Fundstück bald dem Landesmuseum zu überlassen. Das ist ganz im Sinne von Peter Rückert: „Es wäre sehr schön“, sagt er, „wenn nach der Ausstellung eine Originalkugel im musealen Bestand des Landes bliebe.“