Wolfram Pyta im Tiefenhörsaal der Universität Stuttgart Foto: Lichtgut/Achim Zweygarth

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen will mit jeglicher Wehrmachtstradition brechen. Braucht die Armee dann andere Vorbilder aus der Geschichte? Ein Gespräch mit dem Stuttgarter Historiker Wolfram Pyta.

Stuttgart - Ein Oberleutnant, der als Flüchtling getarnt einen Terroranschlag plant und mit seiner rechtsradikalen Gesinnung nicht allein sein soll in der Truppe. Angeblich sexuell-sadistische Aufnahmerituale in einer Kaserne. Eine Verteidigungsministerin, die ihrer Armee ein Haltungsproblem vorwirft. Ein Hauptmann, der in einem offenen Brief fordert, der Bundeswehr ihre Würde zurückzugeben. Die Truppe, so scheint es, steuert auf ein handfestes Identitätsproblem zu. Die Vergangenheit soll rigoros gekappt werden, zugleich bleibt vage, was man vom Soldaten der Zukunft erwartet. Wo steht die Bundeswehr heute? In einem Biotop am Rande der Gesellschaft, sagt der Stuttgarter Geschichtsprofessor Wolfram Pyta, 56.

Herr Pyta, alles auf dieser Welt hat eine Geschichte, sagt man. Ist eine Armee ohne Tradition denkbar?
Gewiss kann man sich vorstellen, und in der Weltgeschichte wimmelt es von solchen Beispielen, dass junge Staaten wie jetzt etwa die Slowakei sich schwertun, auf die Tradition einer eigenen Armee zurückzugreifen. Aber bei den großen Nationen, die sich nicht zuletzt auch über militärische Leistung definiert haben, wird man kaum auf traditionsstiftende Elemente verzichten können, die imstande sind, dem Soldaten von heute ein Wegweiser zu sein.
Wo aber können die Deutschen historisch nicht kontaminierte Traditionen finden, an die sich anzuknüpfen lohnte?
Dieselbe Frage könnten wir auch an Russland stellen, einen Staat, der mit dem Problem umgehen muss, ob die Rote Armee in irgendeiner Weise identitätsbildend ist. Oder Frankreich. Im 19. Jahrhundert gibt es kein europäisches Land, das so viele Umbrüche durchlebt. Frankreich hat in geradezu frappierendem Maße auf militärische Erfolge von Regimen zurückgegriffen, die als politische Systeme sich eher keiner vorbildhaften Funktion erfreuten. Schauen wir auf den Invalidendom und das ihm angegliederte Musée de l’Armée: Wir werden eine fast bruchlose Kontinuität der französischen Militärgeschichte vorfinden – mit den Taten Napoleons im Zentrum. Wenn man den europäischen Umgang als Maßstab nimmt, sind es im Kern immer siegreiche Schlachten oder große militärische Gestalten, die bleiben.
In der 62-jährigen Geschichte der Bundeswehr gab es bereits zwei Traditionserlasse. Und beide haben sich mit der Wehrmacht auseinandergesetzt.
Das war auch verständlich. 1965 auf jeden Fall, weil ein erheblicher Teil der damals die führenden militärischen Positionen Innehabenden eine Wehrmachtsvergangenheit hatte – das konnte ja auch gar nicht anders sein! Und auch 1982 unter dem damaligen Verteidigungsminister Hans Apel hat man die Dinge noch einmal synthetisiert.
Immer ging es dabei um die Frage: Wie viel Wehrmacht darf sein? Bis heute ist man offenbar davon nicht ganz losgekommen.
Ich weiß nicht, ob diese Fixierung auf die NS-Zeit klug ist. Wir haben schließlich eine Reichswehr in der Weimarer Republik, die entgegen teils noch in Schulbüchern verbreiteten Halbwahrheiten ein stabilisierender Faktor war. Manches spricht auch dafür, dass in der Staatskrise 1932 eine von der Reichswehr gestützte Zwischenlösung die erfolgreichste Alternative zur Beauftragung Hitlers mit der Kanzlerschaft gewesen ist. Es war auch kein Zufall, dass Kurt von Schleicher, der letzte Reichskanzler vor Hitler, ein politischer General war. Dahinter steckt der Anspruch preußisch-deutscher Militärs, in Krisenzeiten um der Staatsräson willen politisch zu intervenieren. Das muss nicht immer schlecht sein. Genau aus diesem Grund entschloss sich ja der militärische Widerstand vom 20. Juli zum Eidbruch.
Dennoch will die Verteidigungsministerin eine „Null-Linie“ ziehen, alle Wehrmachtsüberbleibsel entfernen und die Truppe gleichsam porentief reinigen.
Dann allerdings stellt sich die Frage, was man an diese Stelle setzt.
Haben Sie einen Vorschlag?
Man könnte die Chance nutzen und auf den Reichtum der preußisch-deutschen Geschichte blicken.
Mit ihrer militärischen Dominanz?
Mit ihren Charakterköpfen der Kriegswissenschaft, die den Ort des Militärs in Politik und Gesellschaft neu bestimmt haben. Gelehrsamkeit und Armee gehörten lange Zeit zusammen. Clausewitz, der bis heute in Militärakademien auf der ganzen Welt als der Theoretiker schlechthin gilt, ist eine Figur, die versucht, das Phänomen Krieg einzuhegen, und sich nicht zu einem vulkanischen Ausbruch verleiten lässt. Wenn Hindenburg sich in einem Bild darstellt als der Denker des Krieges, ist Moltke sein Vorbild. Bei einer Umfrage nach dem größten deutschen Denker kommt Ende des 19. Jahrhunderts nicht Immanuel Kant auf Platz eins, sondern Helmuth von Moltke, der Wissenschaftler des Krieges. Und wir haben mit Generaloberst Ludwig Beck, dem mutigsten und entschiedensten Gegner Hitlers, einen, der in dieser Tradition der Kriegswissenschaft steht.
Die notfalls auch eine Rebellion gegen die Obrigkeit vorsieht.
Yorck von Wartenburg, preußischer Generalfeldmarschall, wagte es 1812, gegen den Befehl des Königs die Fronten zu wechseln. Er sprang ab von der Untertänigkeit gegenüber Frankreich und schlug sich auf die Seite des größten Widersachers Napoleons, des russischen Zaren Alexander I. Diesen Wechsel gegen die Marschroute des obersten Befehlshabers – den man schließlich doch noch mitgezogen hat – ist als Yorck-Tat ein stehender Begriff geworden, dafür, dass Militärs gelegentlich der Politik gegenüber ungehorsam sind, um das Gemeinwesen zu retten.
Preußen ist lange her.
Tatsächlich kennt die Geschichte der preußischen Reformen mit ihrer Wehrhaftmachung des Volkes, der Professionalisierung der Armee und der militärischen Ausbildung keiner mehr. Preußen ist in der deutschen Geschichte weitgehend entsorgt.