Merkur, Gott der Diebe und Händler, schützt von der Merkursäule an der Alten Kanzlei an Markttagen seine Klientel auf dem nahen Schillerplatz Foto: Leif Piechowski

Auf Spurensuche: In den vielen Winkeln der Stadt sind so manche Geschichten und Entdeckungen verborgen. Wir blicken auf Orte, Fassaden und Bauwerke, die sich nicht auf den ersten Blick erklären.

Auf Spurensuche: In den vielen Winkeln der Stadt sind so manche Geschichten und Entdeckungen verborgen. Wir blicken auf Orte, Fassaden und Bauwerke, die sich nicht auf den ersten Blick erklären.

Stuttgart - Hoch über dem Herzen Stuttgarts glänzen zwei golden schimmernde Figuren: der antike Gott Merkur auf der Merkursäule an der Alten Kanzlei und der Hirsch auf der Kuppel des Kunstgebäudes am Schlossplatz.

Der südliche, dem Alten Schloss zugewandte Teil der Alten Kanzlei wurde um 1540 aus den Steinen der Heslacher Marienkirche errichtet. Dabei handelt es sich quasi um einen Racheakt des Herzogs Ulrich von Württemberg (1487 bis 1550). Der Grund: Zwischen 1519 und 1534 war Stuttgart habsburgisch, während Herzog Ulrich im Exil in Mömpelgard weilte. Ab und zu kam er inkognito ins Land. „In Heslach soll er jedoch erkannt und verraten worden sein“, sagt Herbert Medek, Experte für Stuttgarter Stadtgeschichte im Stadtplanungsamt. Anno 1534 gelang Herzog Ulrich die Rückkehr als Landesherr, weil ihn reformierte Fürsten, darunter sein Vetter Landgraf Philipp von Hessen, unter der Bedingung unterstützten, dass er und das Land evangelisch wurden.

„Nach seiner Rückkehr in Amt und Würden erlegte Ulrich den Heslachern Strafen auf: Sie mussten blaue Strümpfe tragen, damit man sie schon von weitem als Verräter erkenne. „Deshalb gibt es in Heslach einen Blaustrümpflerweg“, sagt Herbert Medek. Außerdem nahm Ulrich den Heslachern ihre Haupteinnahmequelle, die Marienkirche, weg. Er ließ die Wallfahrtskirche abreißen. Aus ihren Steinen wurde am späteren Schillerplatz das Kanzleigebäude errichtet. Daneben erhebt sich eine Säule, auf der damals ein Wasserkasten stand. Der frühneuzeitliche Wasserhochbehälter speiste das Alte Schloss, die Schlosskirche und die Brunnen am Schloss mit Wasser. Der Hochbehälter sorgte für den notwendigen Druck. Der Behälter wurde mühsam mit Wasser, das man in Eimern in die Höhe zog, befüllt. Um 1800 baute man an die Säule einen Brunnen an, der Kosaken-Brunnen heißt, weil in den Befreiungskriegen gegen Napoleon im Jahre 1814 dort Kosaken ihre Pferde tränkten. Sicher ist, dass sich die Kosaken noch nicht an der goldenen Merkurstatue erfreuten, denn der Wasserkasten wurde erst 1862 entfernt und durch die Statue ersetzt.

Die Figur selbst stammt vom anno 1801 in Ludwigsburg geborenen Ludwig von Hofer, der in Stuttgart zum Bildhauer ausgebildet wurde. Der Architekt Leo von Klenze, ein Meister des Klassizismus, holte Hofer als Mitarbeiter der Glyptothek, Münchens ältestes Museum für antike Skulpturen, in die bayerische Landeshauptstadt. Dann ging Hofer fünf Jahre lang als Mitarbeiter des dänischen Bildhauers Bertel Thorvaldsen, der später das Schillerdenkmal auf dem Schillerplatz schaffen sollte, nach Rom. Nach seiner Rückkehr nach Stuttgart arbeitete er für König Wilhelm I. Eines seiner ersten Werke dort ist die Rosse-Bändiger-Gruppe am Eingang des Unteren Schlossgartens. Auch das Denkmal für den Grafen Eberhard im Schlossgarten und die Concordia, die soeben einen neuen Sockel erhält, stammen von ihm.

Die Statue auf der Säule der alten Kanzlei stellt den antiken Gott Merkur dar, der bei den alten Griechen Hermes hieß und bei ihnen ausschließlich Götterbote war. Seine römische Entsprechung war Merkur. Für die alten Römer war er außerdem der Gott der Händler und der Diebe – eine aparte Kombination für die nahen Markttage auf dem Schillerplatz. Ludwig von Hofers Merkurstatue ist die Kopie eines Werks des italienischen Renaissance-Künstlers Giovanni di Bologna aus dem Jahre 1580, das im Louvre in Paris zu sehen ist. Hofers Statue war ein Zinkguss, der im Zweiten Weltkrieg durch Einschüsse beschädigt wurde und 1995 durch einen vergoldeten Bronzeguss der Süßener Firma Strassäcker ersetzt wurde.

Auf der Kuppel des Kunstgebäudes thront der goldene Hirsch. Das Kunstgebäude wurde anstelle des in der Nacht auf den 20. Januar 1902 abgebrannten Lusthauses errichtet. Architekt war der in Schweinfurt geborene Theodor Fischer, der überwiegend in München lebte und dort den Generalbauplan aufgestellt hatte. 1901 kam Fischer als Professor für Baukunst an die Technische Hochschule Stuttgart. Zwar blieb er dort nur bis 1908, aber diese kurze Zeit genügte, um in Stuttgart eine eigene Form der Baukunst, die sogenannte Stuttgarter Schule, aus der Taufe zu heben. Sie ist gekennzeichnet von der Abkehr vom wilden Stilmix des Historismus hin zum konservativen Traditionalismus mit originaler Handwerkskunst und natürlichen Materialien. Fischer war Erzieher einer ganzen Architektengeneration, zu der unter anderem Paul Bonatz zählte. 1910 bis 1913 erbaute er das Kunstgebäude mit seinem schönen Kuppelsaal.

Ludwig Habich, damals Professor an der Kunstakademie, setzte den goldenen Hirsch, Württembergs Wappentier, darauf. Schon die württembergischen Grafen hatten ab dem 13. Jahrhundert mit den drei Hirschstangen gesiegelt. Erst die späteren Herzöge brachten den Hirsch als Tier ins Wappen, und im heutigen Landeswappen ist er der Wappenhalter. Ludwig Habichs Hirsch wurde in den 1990er Jahren neu vergoldet. Seit September 2013 tagt der baden-württembergische Landtag im Kunstgebäude, aber es ist nicht das erste Mal, dass der Hirsch über den Parlamentariern thront: 1920, nach dem Kapp-Putsch, wurde das Kunstgebäude zum Tagungsort der Deutschen Nationalversammlung , die aus Berlin dorthin floh.