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Schadet die visuelle Informationsflut des Internet-Zeitalters dem menschlichen Gehirn?

Stuttgart - Wer lesen lernt, baut sein Gehirn um - und erweitert dadurch auch sein Bewusstsein. Die amerikanische Forscherin Maryanne Wolf befürchtet allerdings, dass diese wichtige menschliche Fähigkeit in der visuellen Informationsflut des Internet-Zeitalters untergehen könnte.

Ohne Auswendiglernen und Anleitung durch Lehrer verkommt die Tugend, die Jugend und überhaupt alles, davon war zumindest Sokrates überzeugt. Unermüdlich wetterte er gegen das Lesen und Schreiben. Mit toten Buchstaben könne man keine lehrreichen Gespräche führen; jederzeit zugängliche Bücher vermittelten nur oberflächliche Scheinkenntnisse. Nicht, dass man auf den Philosophen gehört hätte: Wenn seine Schüler nicht heimlich mitgeschrieben hätten, wüssten wir gar nichts mehr von seinem Gemotze. "Sokrates' Bedenken bezüglich des Wechsels von der mündlichen Überlieferung zur Schrift sind aber nur scheinbar einfältig", sagt Maryanne Wolf. "Sie betreffen viele aktuelle Sorgen. Wie die alten Griechen stehen wir vor einem bedeutsamen Übergang - von einer Schriftkultur zu einer eher digitalen und visuellen."

Wer liest, verändert buchstäblich seinen Kopf

Maryanne Wolf leitet an der Tufts University bei Boston ein Zentrum zur Lese- und Sprachforschung. "Wir werden nicht als Leseratten geboren", betont die Wissenschaftlerin. "Keine Errungenschaft unserer geistigen Entwicklung sollten wir weniger selbstverständlich hinnehmen als das Lesen." Babys können praktisch von Geburt an hören und sehen und mit mehr oder auch weniger Gewinn einen Fernseher anglotzen. Dagegen haben wir keine Gene für die Lesefähigkeit: Aus kleinen Punkten und Linien bestimmte Muster zu erkennen und sie mit einzelnen Lauten einer Sprache in Verbindung zu bringen, muss eigens gelernt werden.

"Unsere Urahnen haben rund 2000 Jahre gebraucht, um einen alphabetischen Code zu entwickeln. Von unseren Kindern wird erwartet, dass sie diesen Code in nur etwa 2000 Tagen knacken, das heißt, im Alter von sechs oder sieben Jahren", erläutert Bildungsforscherin Wolf. Für jüngere Kinder sei viel vorlesen und vorsprechen zwar hilfreich, nicht aber ein richtiger Lese-Unterricht: Solange das Gehirn noch nicht biologisch ausgereift ist und die Nervenzellen mit dem leitfähigen Material Myelin ummantelt sind, sei Schule "einfach verfrüht, für viele Kinder sogar kontraproduktiv". Die Köpfe von Jungs werden übrigens langsamer verdrahtet: Bis zum Alter von etwa acht Jahren können Mädchen schneller Benennungsaufgaben lösen.

Wer liest, verändert buchstäblich seinen Kopf: Gehirnteile, die von Natur aus für andere Aufgaben gedacht waren, werden kreuz und quer neu miteinander verknüpft. Neuronen und Nervenbahnen spezialisieren sich darauf, Buchstaben und Wörter zu identifizieren. Zunächst ist das Entziffern noch mühsam: "K-a-t-z-e". Nach vielem Üben aber tanzen unsere Augen, wenn alles gutgeht, scheinbar mühelos über Beschreibungen wie "eine schnurrende Kreatur auf Samtpfoten" - und wir begreifen sofort, dass damit eine Katze gemeint ist.

Lesen fördert logisches Denken

Zum Verständnis führen dabei viele Wege. Gehirn-Scans zeigen, dass verschiedene Sprachen und Schriften unterschiedliche Anpassungen der ursprünglichen Hirnstrukturen erfordern. So kann es vorkommen, dass Japaner, die von klein auf mit vier Schriftsystemen hantieren, nach einem Schlaganfall zwar keine chinesischen Zeichen mehr lesen können, aber weiterhin mit den japanischen Silbenschriften zurechtkommen. Entsprechend kann Leseschwäche ganz unterschiedliche Gründe haben: In Deutschland kämpfen Legastheniker vor allem mit dem flüssigen Lesen, im englischsprachigen Raum eher mit dem Entziffern, während sie in China unter fehlendem visuell-räumlichem Gedächtnis leiden.

Wer flüssig lesen kann, braucht im Schnitt für ein Wort nur eine halbe Sekunde: In den ersten 100 Millisekunden wird die Aufmerksamkeit von dem gelöst, was man gerade getan hat, zu den neuen Buchstaben hingewendet und darauf fixiert. Allein für diese drei Anfangsoperationen müssen drei verschiedene Hirnareale koordiniert werden. In den folgenden 400 Millisekunden liefern andere Gehirnteile Informationen, um die erfassten Buchstaben mit Lauten, Rechtschreibkenntnissen und Hintergrundwissen zur Bedeutung zu verbinden: Was steht denn da?

Erstaunlich ist auch, wie unsere Augen entlang des Textes wandern: Erwachsene fixieren typischerweise jeweils rund acht Buchstaben. Gleichzeitig werden in Leserichtung rund 14 weitere Buchstaben zumindest oberflächlich wahrgenommen - quasi als Vorschau, damit sie dann schneller verstanden werden.

Lesen fördert logisches Denken

"Die größte Leistung des lesenden Gehirns ist das mysteriöse, unsichtbare Geschenk der Zeit", erklärt Wolf. "Unter Beteiligung von ganz verschiedenen Hirnregionen und Milliarden von Neuronen verschmelzen kognitive, sprachliche und affektive Prozesse fast unmittelbar." Einfach gesagt: Wer Buchstaben blitzschnell, ja fast automatisch entziffern und verstehen kann, hat mehr Zeit zum Nachdenken. Und das wiederum ist laut Wolf "ein Anreiz für die Entwicklung ungeheuer wichtiger Fertigkeiten: etwa Dokumentation, Klassifikation, Organisation und Internalisierung von Sprache, Bewusstsein für sich und andere - sowie Bewusstsein für das Bewusstsein selbst".

Wolf fragt sich nun, was daraus in der Online-Welt wird. "Wenn uns scheinbar vollständige visuelle Informationen fast auf einen Schlag dargeboten werden, haben wir dann noch Lust, diese Informationen zu verarbeiten?" Wird sich die Sicht von Kindern somit auf das beschränken, was schnell und leicht erreichbar ist, so dass sie "nicht mehr über ihre hochmodernen High-Tech-Scheuklappen hinaussehen", wie Wolf sagt?

Aber vielleicht liegen die Pessimisten wieder mal ganz falsch. Jedenfalls fördert Lesen genau die Fähigkeiten, von denen Sokrates einst befürchtete, dass sie mit zunehmender Alphabetisierung verschwinden würden: logisches Denken, Analysieren und kritisches Bewerten. So ist nicht auszuschließen, dass wir auch vor den Bildschirmen nicht verblöden, sondern "neue Verbindungen in unserem Gehirn ausbilden, die unsere geistige Entwicklung auf bisher ungeahnte Weise in eine neue Richtung vorantreiben", wie Wolf sagt.